Hamburg. Ingrid Unkelbach, Leiterin des Olympiastützpunktes, über fehlende Wettkämpfe, den Zusammenbruch der Talentsichtung und Burn-out-Gefahr.

Homeoffice und Büropräsenz wechseln sich im Arbeitsleben von Ingrid Unkelbach aktuell ab. Als Leiterin des Olympiastützpunktes (OSP) Hamburg/Schleswig-Holstein kann die 60-Jährige nicht alle Aufgaben von daheim erledigen – und sie will das auch gar nicht. „Persönliche Kontakte sind das, was mir am meisten fehlt, deshalb sind sie mir da, wo es möglich ist, sehr wichtig“, sagt sie. Das Gespräch mit dem Abendblatt findet deshalb auch von Angesicht zu Angesicht statt.

Frau Unkelbach, es ist sechs Monate her, dass Sie den OSP nach dem Lockdown wieder für alle Kadermitglieder öffnen durften. Sind Sie in dem zurückliegenden halben Jahr in der neuen Normalität angekommen?

Ingrid Unkelbach: Zumindest haben wir einen guten Arbeitsablauf entwickelt und gelernt, alle notwendigen Maßnahmen rasch und vollständig umzusetzen. Wir haben Aufgaben verteilt und Zuständigkeiten geklärt, sodass wir auf jede Entwicklung sofort reagieren können. Dennoch mag ich nicht von einer neuen Normalität sprechen.

Weil Sie noch hoffen, dass das alte Leben, das wir vor Corona kannten, zurückkommt?

Nein, das wird nicht passieren. Ich glaube zwar weiterhin fest daran, dass vieles wiederkommt. Aber es wird eine neue Normalität geben, wenn Corona überwunden ist. Dass ich jetzt noch nicht davon spreche, liegt daran, dass wir in einer Phase sind, in der sich permanent alles verändert, manchmal sogar täglich. Wir müssen uns immer wieder neu anpassen. Seit vergangener Woche gilt zum Beispiel auch im Kraftraum die Maskenpflicht für Trainer und Betreuer. Das ganze Prozedere läuft geräuschlos, alle Mitarbeitenden und die Sportlerinnen und Sportler handeln verantwortungsbewusst und eigenständig. Aber Normalität ist erst wieder gegeben, wenn Regeln länger gelten als nur Wochen oder Tage.

Bislang gab es am OSP erst einen Corona-Fall, Anfang dieser Woche im Lager der Schwimmer. Ist das Ihre schlimmste Sorge gewesen, und waren Sie zufrieden mit der Umsetzung des Hygienekonzepts?

Da es nie die Frage war, ob es bei uns einen Fall geben würde, sondern nur wann, war das nicht meine größte Sorge. Die gilt eher den vielen Existenzen, die durch die Krise in Gefahr sind, nicht nur im Sport, sondern in der gesamten Gesellschaft. Tatsächlich bin ich aber sehr glücklich darüber, wie diszipliniert alle Beteiligten unser Hygienekonzept umsetzen. Für die Sportlerinnen und Sportler ist die Gesundheit das wichtigste Kapital, und danach handeln sie. Ich habe immer gesagt, dass Athleten disziplinierte, verantwortungsbewusste Menschen sind. Das zeigt und bewährt sich in dieser Krise, und das freut mich sehr.

Corona in Hamburg, Deutschland und weltweit – die interaktive Karte:

Da man stets das Positive im Negativen suchen sollte: Welche der Neuerungen, die die Pandemie eingefordert hat, werden Sie beibehalten, wenn die Lage wieder im Griff ist?

Die Durchführung von Videokonferenzen hat sich absolut bewährt. Es ist notwendig, sich persönlich zu treffen, aber längst nicht für alle Besprechungen. Videomeetings werden wir auf jeden Fall weiterführen. Und auch das Homeoffice wird sich verstärkt durchsetzen. Natürlich gibt es weiterhin Präsenzpflichten, aber ein stetiger Wechsel und mehr Flexibilität sind möglich und richtig.

Sprechen wir über die Auswirkungen der Pandemie auf Ihre wichtigste Klientel, die Leistungssportler. Aus Gesprächen gewinnt man den Eindruck, dass die vergangenen sechs Monate vor allem mental zehrend waren, weil die den Wettkampfbetrieb betreffende Ungewissheit die Aktiven zermürbt.

Diesen Eindruck teile ich absolut, wobei man differenzieren muss. Für die Olympia- und Perspektivkader lief zumindest der Trainingsbetrieb recht reibungslos, da gab es kaum Einbußen. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den Sportarten gravierend, wenn es um das Thema Wettkämpfe geht. Während die Hockeyspieler oder Handballer wieder im regulären Ligabetrieb sind und auch schon Länderspiele machen konnten, hatten die Schwimmer keinen einzigen Wettkampf. Die psychischen Auswirkungen dessen sind schwer abzusehen. Fakt ist, dass einige Athleten die Sinnhaftigkeit von Leistungssport hinterfragen, wenn sie sich nicht messen können. Die Gefahr, dass wir in den kommenden Monaten einige Karriereenden erleben werden, ist groß. Wir begleiten das am OSP mit der Hilfe unserer Fachleute in der Laufbahnberatung und in der Psychologie. Aber der Bedarf ist enorm.

Sie sagten, dass Olympia- und Perspektivkader relativ unbeschwert trainieren konnten. Aber was ist mit dem Nachwuchs, der viel stärker unter den Restriktionen gelitten hat? In vielen Sportarten hört man bereits den Begriff der „verlorenen Generation“.

Diese Befürchtung ist absolut berechtigt. Gerade im Vereinstraining waren und sind die Einschränkungen immens, wobei es auch da Unterschiede gibt. Hockeyclubs mit eigenen Anlagen können viel mehr Training anbieten als Schwimmvereine, die in den wenigen Hallen in Hamburg keine angemessenen Zeiten für die Kinder und Jugendlichen bekommen. Die Nachwuchsgewinnung ist auf Null heruntergefahren. Talentsichtung und –entwicklung liegen total brach, weil die Kapazitäten und das Personal fehlen. Auch der Sportunterricht an den Schulen, der ein wichtiges Element im Nachwuchssport darstellt, leidet stark. Diese Entwicklung bereitet mir sehr große Sorgen.

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    Tatsächlich sehe ich dieses Problem ebenfalls. Die Angebote sind größtenteils noch da, aber es fehlt die Nachfrage. Viele Eltern müssen sehen, wie sie den Alltag irgendwie geregelt kriegen. Da ist die sportliche Ausbildung der Kinder nachrangig. Diese Entwicklung ist brandgefährlich. Zudem fehlen die Highlights wie Wettkämpfe, wo die Kinder und Jugendlichen ihre Idole in Action sehen können und ihnen nacheifern wollen.

    Im Winter, wenn vermehrt in der Halle trainiert werden muss, droht sich die Situation noch einmal zu verschärfen. Fürchten Sie, dass der Trainingsbetrieb zumindest im Mannschafts- und Vereinssport wieder dauerhaft eingestellt werden muss?

    Das ist momentan schwer einzuschätzen. Allerdings fürchte ich, dass es keine Trainingslager in der Sonne geben wird. Was das mit den Ruderern oder Beachvolleyballern macht, die es gewohnt sind, im Warmen draußen zu trainieren, bleibt abzuwarten. Die Trainerinnen und Trainer sind noch stärker gefordert, neue Reize zu setzen.

    Wobei gerade diese Gruppe in den vergangenen Monaten extrem strapaziert wurde. Da lange in kleineren Gruppen trainiert werden musste, mussten mehr Einheiten angeboten werden, ohne dass mehr Personal da war. Dazu kam die Fürsorgepflicht für das Einhalten der Hygieneregeln und die Verantwortung auch für die psychische Gesunderhaltung. Wer hilft denn den Trainern?

    Keine Frage: Es ist krass, was diese Berufsgruppe seit Monaten für einen Aufwand fährt. Ich würde sogar so weit gehen, dass der logistische, administrative und gestalterische Aufwand unmenschlich ist. Gepaart mit der Verantwortung, die die Trainerinnen und Trainer für ihre Sportler tragen, ergibt das eine Mischung, die die Gefahr von Überlastung bis hin zum Burn-out birgt. Und das Schlimme ist, dass das System es nicht hergibt, dort Abhilfe zu schaffen.

    Weil kein Geld da ist? Fehlt dem OSP wegen der Olympia-Verschiebung ins nächste Jahr die Finanzierungssicherheit für 2021?

    Nein, das ist alles geregelt, das Bundesinnenministerium hat zugesagt, uns im selben Maße wie in diesem Jahr auch 2021 zu unterstützen. Wie es um die einzelnen Fachverbände steht, kann ich nicht beurteilen. Aber der OSP ist finanziell abgesichert. Das Problem ist vielmehr, dass der Trainermarkt kein zusätzliches Personal hergibt.

    Nach der Olympia-Verschiebung sagten Sie, Sie könnten sich nicht vorstellen, dass es ein weltumspannendes Ereignis wie die Sommerspiele geben könne, ohne dass ein Impfstoff verfügbar ist. Wie denken Sie heute?

    Anders, weil wir viel mehr über das Virus wissen und jeden Tag Neues darüber lernen, und weil viele Sportarten mit intelligenten Formaten gezeigt haben, dass die Durchführung von Großereignissen auch während einer Pandemie möglich ist. Wir werden lernen, mit Corona zu leben, und dazu gehört, dass Konzepte entwickelt werden, die sichere Veranstaltungen ermöglichen. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass Olympia im kommenden Jahr stattfindet. Und auch die Winterspiele 2022 in Peking, die ja nur ein gutes halbes Jahr später anstehen. Es werden andere Spiele sein, als wir sie bislang kannten, und es werden Lösungen gefunden werden, die nicht allen gefallen. Aber wir müssen in vielen Bereichen des Lebens anders handeln als gewohnt, und es ist für alle am Leistungssport Beteiligten einfach mega wichtig, dass Olympia stattfindet.

    Im November steht traditionell das Jahresabschlussfest am OSP an. In diesem Jahr wird es ausfallen. Was löst das in Ihnen aus?

    Der Verzicht auf soziale Kontakte ist tatsächlich das, was mir am meisten fehlt. Die Liebsten nicht umarmen zu können, sich nicht in großem Rahmen treffen zu dürfen, finde ich wirklich hart. Aber wir werden es irgendwann im Griff haben und wieder gemeinsam feiern und leben. Dass es länger dauert, als viele gedacht oder gehofft haben, ist bitter. Aber Corona ist eben ein Marathonlauf und kein Sprintwettbewerb. Wenn wir nicht aufgeben, kommen wir irgendwann ins Ziel.