Hamburg. Hamburger Hockey-Nationalspielerin Janne Müller-Wieland bricht in Krefeld als vierte Deutsche eine besondere Rekordmarke.

Zurückschauen ist nichts, was Leistungssportler schätzen, die noch Großes vorhaben. Weiter, immer weiter muss es gehen, nur das nächste Spiel, der nächste Wettkampf zählt. Für Janne Müller-Wieland allerdings ist das nächste Spiel ein derart besonderes, dass eine Rückschau unvermeidbar ist. Immerhin läuft die 32 Jahre alte Hamburgerin vom Uhlenhorster HC am Sonntag (12 Uhr/Herren um 14.30 Uhr gegen Australien/DAZN live) im letzten Heimspiel der Pro-League-Saison 2019 gegen Australien in Krefeld zum 300. Mal für die deutschen Hockeydamen auf. Eine Rekordmarke, die bislang nur die Berlinerin Natascha Keller (41/389 Spiele), die Braunschweigerin Nadine Ernsting-Krienke (45/343) und die Mannheimerin Fanny Rinne (39/319) übertrumpfen konnten.

„Ich gebe zu, dass mich diese Zahl auch überrascht. Mit 300 Länderspielen ist man wahrscheinlich offiziell alt“, sagt Janne Müller-Wieland. 32 Jahre sind im Studentensport Hockey, den viele Aktive spätestens aufgeben, wenn sie ins Berufsleben wechseln müssen, um das Geld zu verdienen, das es im Hockey nicht zu verdienen gibt, tatsächlich ein fast biblisches Alter. Doch weil die Tochter von UHC-Präsident Horst Müller-Wieland nicht nur ihr freiberufliches Tätigkeitsfeld stets galant um ihren Sport herum zu drapieren verstand, sondern sich körperlich „so gut in Form wie vielleicht noch nie zuvor“ fühlt, ist Alter in ihrem Fall nur eine Zahl. Eine Zahl wie die der 300 Spiele, die sie am Sonntag in Krefeld mit ihren Eltern, den Geschwistern Roda (ebenfalls UHC-Bundesligaspielerin) und Johannes und ein paar Wegbegleitern feiern wird.

Unspektakuläres erstes Mal

An ihr erstes Mal hat Janne Müller-Wieland nicht mehr allzu viele Erinnerungen, dafür war es zu unspektakulär. Silvester 2006, erster Lehrgang mit dem A-Kader in Südafrika, es ging gegen den Gastgeber, viel mehr weiß sie nicht. Das zweite Länderspiel sei viel prägender gewesen. „Da spielten wir gegen die Niederlande, die damals die beste Innenverteidigung der Welt hatten, und ich spielte als Mittelstürmerin. Ich hatte immer zwei Gegenspielerinnen, und wenn ich an einer mal zufällig vorbeikam, war gleich die nächste da. Ich habe keinen Stich gesehen“, sagt sie. Erst zu Olympia 2008 etablierte sie sich im A-Kader. Bundestrainer damals: Michael Behrmann, aktuell als Nachwuchskoordinator im Club an der Alster tätig.

„Ich kannte Janne schon aus der U13 im Hamburger Landesverband, bin mit ihr U-21-Europameister und U-21-Vizeweltmeister geworden“, erinnert er sich. „Natürlich wusste ich, dass sie ein Riesentalent war. Aber mir waren damals ihre leichtfertigen Dribblings in der Abwehr etwas suspekt, deshalb habe ich sie in den Sturm gestellt.“

Fixpunkt der Innenverteidigung

Zu ihrem Olympiadebüt 2008 in Peking zog er die damals 21-Jährige aber in die Abwehr zurück und ließ sie auf dem rechten Flügel verteidigen. „Ich kam damals in eine sehr starke Mannschaft, die 2004 Olympiagold und 2007 den EM-Titel gewonnen hatte. Da musste ich erst einmal verstehen, wie der Hase läuft. Obwohl ich beim UHC schon Kapitänin war, passte es mir gut, dass ich erst einmal keine Führungsaufgaben hatte“, sagt Janne Müller-Wieland.

Während sie sich im Verein früh zum Fixpunkt der Innenverteidigung entwickelte, rückte sie im Nationalteam zunächst ins Mittelfeld vor, um dort über die Flügel das Spiel anzutreiben. Die WM 2010 in Argentinien, die mit Platz vier zwar enttäuschend endete, aber „aufgrund der Hockeyverrücktheit der Argentinier ein absolutes Karriere-Highlight war“, und die Olympischen Spiele 2012 in London (Rang sieben) spielte sie im Mittelfeld. Erst Behrmanns Nachfolger Jamilon Mülders stellte sie in die Abwehrzentrale. Dort spielt Janne Müller-Wieland auch unter dem aktuellen Bundestrainer Xavier Reckinger.

Alleinige Spielführerin

Seit dessen Amtsübernahme 2017 ist sie alleinige Spielführerin der Mannschaft. Eine Rolle, die sie mit der Klarheit in ihren Ansagen und ihrer Leistungsbereitschaft optimal ausfüllt. „Ich denke schon, dass ich mich sehr gut eingefügt habe im System Nationalmannschaft. Wir haben als Team einen sehr engen Draht zum Präsidium des Verbands“, sagt sie. Als Marketingspezialistin war sie 2010 federführend an der Positionierung der deutschen Damen als „Die Danas“ beteiligt. Was zunächst belächelt wurde, hat sich als Marke mit hohem Wiedererkennungswert etabliert.

Wie lange sie es noch schaffen kann, ihr Berufsleben in der Start-up-Szene, ihr Privatleben mit dem Ehrenamt im Athletenkomitee des Weltverbands und ihren Leistungssport zu vereinen, davon will sich die Führungsspielerin selbst überraschen lassen. Die stetig wachsende Konkurrenz in der breiter werdenden Weltspitze, dazu die gesteigerten Anforderungen an Athletik und individuelle Weiterentwicklung sind Faktoren, die das Mithalten auf höchstem Niveau immer anspruchsvoller erscheinen lassen. „Im Moment ist Olympia 2020 in Tokio mein letztes Ziel. Aber es bricht mir jetzt schon das Herz, wenn ich an meinen Abschied denke. Deshalb frage ich mich, warum ich aufhören sollte, wenn es noch gut läuft“, sagt sie – und liefert die Antwort gleich hinterher. „Weil ich nicht so lange spielen möchte, bis alle fragen, wann ich denn nun endlich aufhöre. Und weil ich mich auf mehr Freizeit freue!“

Hanseatisches Understatement

Ein letztes Hurra in Japan schlösse in gewisser Weise auch einen Kreis, schließlich hat Janne Müller-Wieland 2014 für ein halbes Jahr in Hiroshima gespielt, in einem Coca-Cola-Firmenteam, das in der dortigen Eliteklasse antritt. Sie hat sich immer schon für fremde Kulturen interessiert, ist ein weltoffener, sprachgewandter Mensch und hat dank ihrer lebensfrohen Art und ihrer Erfolge so viele Freunde gewonnen, dass ein Abschiedsspiel im UHC in ähnlichen Dimensionen denkbar wäre, wie sie Clubidol Moritz Fürste am vergangenen Wochenende erlebte. „Sein Abschied hat mich sehr bewegt, wir sind beide absolute UHC-Kinder. Aber ich fürchte, bei mir würde kaum einer zum Abschied kommen, deshalb würde ich einen solchen Rahmen nicht wählen“, sagt sie.

Man darf das getrost als hanseatisches Understatement abtun. Dennoch wäre Janne Müller-Wieland wunschlos glücklich, könnte sie ihre Laufbahn in Tokio mit einer weiteren Olympiamedaille beenden. Den Bronzegewinn 2016 in Rio de Janeiro ordnet sie bis heute als ihren Karrierehöhepunkt ein, „so viel Adrenalin und Emotionen wie im verlorenen Halbfinale gegen Holland und beim Sieg im Bronzespiel gegen Neuseeland habe ich noch nie verspürt.“ Angesichts von sieben deutschen Meistertiteln mit dem UHC und unzähligen Erlebnissen mit Verein und Nationalteam braucht Janne Müller-Wieland aber keine weitere Medaille, um, wenn der Tag gekommen ist, auf eine außergewöhnliche Karriere zurückblicken zu können.