Hamburg. Der 18 Jahre alte HSV-Spielmacher gilt als Hamburgs größtes Talent. Dabei verlief seine Karriere eher ungewöhnlich.

Leif Tissier sitzt im Hörsaal: Einführungsvorlesung BWL. Seit zwei Wochen studiert der 18-Jährige an der Uni Hamburg Wirtschaft. Erkannt wird der Zweitligaspielmacher vom Handball Sport Verein Hamburg trotz seines jüngsten Galaauftritts nicht. „Jedenfalls hat mich noch keiner meiner Kommilitonen angesprochen“, sagt der Matchwinner, der beim 27:26 gegen Rimpar zwei Sekunden vor Schluss den entscheidenden Treffer erzielte. „Von Freunden und Familie gab es zahlreiche Glückwunschnachrichten“, berichtet er über den Nachhall.

Tissier gilt nach seinem kometenhaften Aufstieg als eines der größten Handballtalente in Hamburg. Vielleicht sogar als das größte. Seit März 2017 schaffte es der Abiturient (Note 1,7) in nur einem Jahr vom A-Jugendlichen zur unerschrockenen Stammkraft beim Drittligameister. Die Superlative und Komplimente schmeichelten ihm, seien aber nicht wichtig. „Ich sehe das als Wertschätzung, bin aber ein Teamspieler und will der Mannschaft helfen“, sagt er bescheiden wie professionell.

Umso wichtiger, dass ihm dies als Aushilfe auf Rückraumrechts zuletzt mit drei wichtigen Toren und viel Tempo gelang. Auf seiner angestammten Spielmacherposition fehlte Tissier dagegen die Durchschlagskraft. Es wird schwieriger in Liga zwei für den sportlich Hochbegabten, der zwar mit schnellen Beinen, einem guten Auge für die Mitspieler und viel, viel Willen ausgestattet ist, aber eben auch nur mit einer Körpergröße von 1,82 Metern und einem Gewicht von 81 Kilo. „84“, sagt Tissier, „drei Kilo habe ich mittlerweile im Krafttraining draufgepackt.“

Vertragsverlängerung noch vor Weihnachten?

Von einem schwierigeren zweiten Jahr, seinem vom Alter her eigentlich ersten im Herrenbereich, will der Youngster, der noch im Elternhaus in Billstedt lebt, nichts wissen. „Ich muss mich an das neue Leistungsniveau anpassen. Das werde ich auch, wenn ich weiterhin die Spielanteile bekomme, die es braucht“, sagt Tissier. Sorgen um zu geringe Einsatzzeiten muss er sich nicht machen. Sein größter Förderer ist gleichzeitig sein Trainer: „Mit ,Toto‘ verbindet mich eine besondere Beziehung.“ Torsten Jansen trainierte Tissier bereits in der A-Jugend, warf den Mittelmann in seinem ersten Spiel als Herrencoach ins kalte Wasser – und stellte den damals 17-Jährigen ins Rampenlicht bei Fans und Medien. Auch bei anderen Clubs?

„Die Frage wurde mir oft gestellt“, sagt Tissier, der betont: „Angebote anderer Clubs gab es nie.“ Sein Vertrag beim HSVH läuft am Saisonende aus. Gespräche über eine Verlängerung sollen „jetzt im November und Dezember“ folgen, sagt Tissier, der von einer Bremer Agentur beraten wird. „Ich will in Hamburg bleiben. In diesem Team bin ich wichtig, kann in der Zweiten Liga spielen. Wo sonst könnte ich das?“, fragt der Senkrechtstarter, der im Vergleich zu einigen Mitspielern ein Spätstarter ist. Finn Wullenweber (20/Rückraum/seit 2010) oder Christopher Rix (21/Außen/seit 2011) sind seit Kindertagen im Verein.

„Ich habe keinen Karriereplan“

Erst 2015 kam Tissier, der beim TVGH Billstedt und AMTV Hamburg ausgebildet wurde, zum HSVH. „Ich habe relativ spät gemerkt, was ich handballerisch kann“, sagt er, macht einen mentalen Leistungsschub für seinen Aufstieg verantwortlich. Internatsanfragen großer Clubs hat Tissier – anders als Lukas Ossenkopp (25/Rückraum), der seine Jugend beim SC Magdeburg verbrachte – nie erhalten. Die Eliteschule des Sports am Alten Teichweg hat er – anders als Altersgenosse Axmann – nicht besucht. Zuletzt kam er Anfang 2017 in der U-19-Nationalmannschaft – anders als Torhüter Marcel Kokoszka (19), der aktuell zur U-21-Auswahl zählt – zum Einsatz. Weder Vater, Mutter noch seine ein Jahr ältere Schwester spielten höherklassig Handball.

„Ich habe keinen Karriereplan“, sagt Tissier. Bei allem Ehrgeiz, den er selbstverständlich habe, müsse er es nicht zum Profi oder in die Erste Liga schaffen. Stattdessen wolle er sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren: auf sein Studium und den HSVH, mit dem er am Sonnabend (19.30 Uhr/Sportdeutschland.tv) beim Wilhelmshavener HV antritt. Rechtshänder Tissier wird wohl erneut die verletzten Linkshänder Kevin Herbst (Fuß) und Jan Forstbauer (Oberschenkel) im rechten Rückraum vertreten. Er wolle seine Chance dort nutzen, eine Umschulung zum Außenspieler, wo Größe keine Rolle spielt, steht nicht ganz oben auf seiner Favoritenliste, lässt er durchblicken.

Nach eineinhalb Stunden Gespräch verabschiedet sich Neu-Student Tissier. Er sitzt wieder im Hörsaal: Vorlesung Grundlagen der Volkswirtschaftslehre.