Hamburg. Nach Protest gewinnt der Australier den Wettkampf. Zukunft des wichtigsten deutschen Radrennens ist offenbar langfristig gesichert.

Dass sie ihn disqualifiziert, ihm den Sieg bei den 21. EuroEyes-Cyclassics entrissen hatten, das hatte Nacer Bouhanni noch mit Fassung getragen. Aber als ihm Rennleiter Michael Haas mitteilte, dass er trotzdem zur Dopingkontrolle müsse, weil es das Los nun einmal so entschieden hatte, verlor der Franzose für einen Moment die Fassung. Wutentbrannt rammte er das Hinterrad seiner Hightech-Rennmaschine auf das Pflaster der Mönckebergstraße, auf dem er kurz zuvor noch in Jubelpose als Erster über den Zielstrich gerollt war.

Bouhanni, so hatten die drei Rennkommissäre entschieden, hatte auf den letzten Metern seine Linie verlassen und eine Welle gefahren, die den Australier Caleb Ewan beim Sprint entscheidend behinderte. Bouhanni wurde nachträglich ans Ende der Spitzengruppe auf Position 27 zurückgestuft und Ewan, dessen Team Orica-BikeExchange Protest eingelegt hatte, zum Sieger erklärt. Der Frankfurter John Degenkolb vom Team Giant-Alpecin rückte dadurch auf Platz zwei vor. Und Giacomo Nizzolo (Trek-Segafredo) hätte als Dritter ebenfalls aufs Treppchen gedurft, doch da war der Italiener bereits enttäuscht von dannen gefahren.

Es war eine harte Entscheidung, von der man sich fragte, ob sie auch so gefallen wäre, stünde der Cofidis-Profi und Hobbyboxer Bouhanni nicht ohnehin im Ruf, ein Rüpel auf Rädern zu sein. Die Tour de France hatte der 26-Jährige verpasst, weil er sich bei einer Auseinandersetzung mit betrunkenen Hotelgästen eine Schnittverletzung an der Hand zugezogen hatte, die mit vier Stichen genäht werden musste.

Sieger Caleb Ewan (l.) und der zweitplatzierte John Degenkolb
Sieger Caleb Ewan (l.) und der zweitplatzierte John Degenkolb © Witters

Wie auch immer, Caleb Ewan sollte es recht sein. Das obligatorische Siegermotiv auf dem Zielstrich konnte der 22-Jährige den Fotografen zwar nicht liefern – Ewan war sich nicht einmal sicher, ob das Feld die Ausreißer noch rechtzeitig gestellt hatte: „Ich wusste gar nicht, ob wir um den Sieg sprinten.“

Vier Profis hatten sich unmittelbar nach dem Start abgesetzt und bis zu sechs Minuten Vorsprung herausgefahren. Sie hatten die Zielbanner bereits vor Augen, als ihre fast fünfstündige Alleinfahrt nach 217 Kilometern beendet war. Und als sei das nicht dramatisch genug, kam es im Moment des Zusammenschlusses noch zu einem Massensturz.

„Es war ein regelrechtes Chaos“, berichtete Degenkolb, „am Ende kann ich mit dem zweiten Platz glücklich sein.“ Umso mehr, als die Deutschen dank dieses Erfolgs und des zehnten Platzes von Vorjahressieger André Greipel nun bei der WM im Oktober in Katar wohl in voller Mannschaftsstärke von neun statt nur sechs Fahrern antreten dürfen.

Der Sturz ging glimpflich ab, wie auch die Unfälle in den drei Jedermannrennen. „Es gab fünf Notarzteinsätze, aber keine folgenschweren Verletzungen“, sagte Rennleiter Haas. Auch mit den anderen Kennzahlen könne man zufrieden sein: knapp 20.000 Anmeldungen, 17.400 Teilnehmer am Start, 16.400 im Ziel, 750.000 gut gelaunte Zuschauer an der Strecke.

Jørn Jørgensen, Gründer und ärzt­licher Leiter des neuen Titelsponsors EuroEyes, zeigte sich sogar „positiv überrascht, wie gut alles gelaufen ist. Es gab nach dem Ausstieg von Vattenfall ein kleines Vakuum, und wir sind ja erst seit Kurzem dabei.“ Jetzt wolle man sich mit den Veranstaltern von der Agentur Ironman Unlimited Events zusammensetzen und beraten, was sich bei der 22. Auflage des wichtigsten deutschen Radrennens – voraussichtlicher Termin: 20. August 2017 – noch verbessern lasse.

Nacer Bouhanni
wähnt sich als Sieger
des wichtigsten
deutschen Radrennens.
Später wurde
dem Franzosen der
Sieg aberkannt
Nacer Bouhanni wähnt sich als Sieger des wichtigsten deutschen Radrennens. Später wurde dem Franzosen der Sieg aberkannt © Getty Images

Auf dem Prüfstand stehen etwa die neuen Zeitmessvorrichtungen für die Jedermannfahrer: An den kleinen Höckern, die nun zu überqueren sind, kam es vereinzelt zu Stürzen. Dafür entfällt dank der neuen Einwegtransponder die umständliche Rückgabeprozedur. Vorstellbar ist auch eine neue Streckenführung für das Profirennen. Haas: „Wenn uns jemand anbietet, in Buxtehude zu starten, dann reden wir gern darüber.“

Die letzten Zweifel an der Zukunft des Rennens in Hamburg scheinen ausgeräumt. Noch bis zum Einstieg von EuroEyes im Mai hatte ein Umzug nach Düsseldorf gedroht. Nun ist auch der Verbleib in der World Tour, der höchsten Rennserie, langfristig gesichert. Ironman-Geschäftsführer Christian Toetz­ke hat sich mit dem Radsport-Weltverband UCI offenbar darauf verständigt, den 2017 auslaufenden Vertrag um weitere vier Jahre zu verlängern.

Möglich, dass die Cyclassics weiter international Karriere machen. Jørgensen, dessen Augenlaser-Unternehmen in China kräftig expandiert, ist überzeugt, dass das Konzept eines kombinierten Profi-Jedermann-Rennens etwa in Shanghai erfolgreich wäre: „Dem Radsport gehört die Zukunft.“