Zürich. Es gibt drei Theorien, warum der DFB im Rahmen der WM-Vergabe 2006 an Deutschland 6,7 Millionen Euro an die Fifa zahlte.

Wolfgang Niersbach droht das endgültige Aus, Franz Beckenbauer und Co. müssen auch noch einmal zittern: Die Macher des Sommermärchens sind endgültig ins Visier der Fifa-Ermittler geraten. Der Fußball-Weltverband wird den Skandal um die Vergabe der WM 2006 noch einmal aufrollen. Während Beckenbauer und Kollegen "nur" einen weiteren Imageschaden befürchten müssen, geht es für Niersbach im schlimmsten Fall einer Sperre um den Verlust seiner lukrativen Posten im Weltfußball.

"Selbstverständlich werde ich in diesem Verfahren in jeder Hinsicht kooperieren und die Untersuchungen der Ethik-Kommission, in deren Arbeit ich uneingeschränktes Vertrauen habe, unterstützen", sagte Niersbach, der wegen des Skandals als DFB-Präsident zurückgetreten war: "Dabei geht es, was meine Person betrifft, ausschließlich um einen möglichen Verstoß aus dem Jahr 2015 gegen die Meldepflicht."

Genau deshalb leitete die Ethikkommission ein formelles Verfahren ein. Laut der Ethiker richten sich die Untersuchungen gegen den ehemaligen DFB-Präsidenten Niersbach und den Ex-Generalsekretär Helmut Sandrock. Zudem ermitteln die Ethiker gegen OK-Chef Franz Beckenbauer, Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger, den früheren Generalsekretär Horst R. Schmidt und den einstigen stellvertretenden Generalsekretär Stefan Hans – außer Niersbach bekleidet allerdings niemand mehr einen Posten.

Hat Niersbach Verstöße nicht gemeldet?

Das eingeleitete Verfahren ist das Ergebnis einer "eingehenden Begutachtung" des Freshfields-Reports, der am 4. März veröffentlicht worden war. Die Ermittler um den Schweizer Cornel Borbély werfen Niersbach und Sandrock vor, der Fifa mögliche Verstöße gegen den Ethikcode des Verbands nicht gemeldet zu haben.

Den anderen Beschuldigten werden "unzulässige Zahlungen" zur Last gelegt, durch die es im Bewerberprozess zu möglichen Vorteilen gekommen sein könnte. Die Fifa teilte zudem mit, dass durchaus weitere Verstöße hinzukommen können, sobald neue Informationen zu Tage treten sollten. Dazu könnten auch neue Fakten zum brisanten Vertragsentwurf mit dem früheren Fifa-Vize Jack Warner (Trinidad und Tobago) gehören.

Borbély, so die Mitteilung der Fifa, werde "sämtlichen Hinweisen" auf verdächtige Handlungen nachgehen und zu gegebener Zeit seine Erkenntnisse der rechtsprechenden Kammer übermitteln. Bis zur Verkündung eines endgültigen Urteils gelte die Unschuldsvermutung. Auch für Wolfgang Niersbach, der seine Ämter im neu geschaffenen Rat des Weltverbandes und im Exekutivkomitee der Uefa behalten will. Der 65-Jährige kassierte allein im vergangenen Jahr für seinen Job bei der Fifa 270.000 Euro. Niersbach könnte aber über Artikel 18 des Ethik-Codes der Fifa stolpern.

"Diesem Reglement unterstellte Personen", heißt es darin, "müssen ein mögliches Vergehen gegen dieses Reglement umgehend dem Sekretariat der Untersuchungskammer der Ethikkommission melden". Und genau das hatte Niersbach im Sommer 2015 versäumt, als er laut eigener Aussage erstmals von den Unregelmäßigkeiten rund um die 6,7 Millionen Euro erfahren hatte.

Drei Thesen über Grund für Millionen-Zahlung

Fakt ist: Im Endeffekt bezahlte der DFB diesen Betrag im Jahr 2005 an den früheren adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus, weil exakt diese Summe über den Umweg der Vorleistungen des WM-Chefs Franz Beckenbauer und Louis-Dreyfus im Jahr 2002 nach Katar überwiesen wurde. Auf die Frage nach dem Grund für den Geldfluss wird derzeit über drei mögliche Antworten spekuliert:

1. Das Geld wurde zum Kauf einer oder mehrerer Stimmen aus Asien benutzt, damit Deutschland den Zuschlag für die WM-Endrunde erhält. Der oder die Empfänger hätten dann allerdings lange auf ihre Gegenleistung warten müssen, da über das Austragungsland schon zwei Jahre zuvor im Exekutivkomitee des Weltverbandes Fifa (12:11 gegen Südafrika) abgestimmt wurde.

2. Mit den Millionen wurde der Wahlkampf des damaligen Fifa-Präsidenten Joseph S. Blatter finanziert. Doch auch das wäre rückwirkend gewesen, da Blatter schon kurz vor der Überweisung im Jahr 2002 wiedergewählt wurde.

3. Das Geld war eine Art Provision für den früheren Fifa-Skandalfunktionär Mohamed bin Hammam, der mittlerweile lebenslang gesperrt ist. Damit sollte sichergestellt werden, dass das damalige Mitglied der Fifa-Finanzkommission für eine Aufstockung des WM-Zuschusses auf die am Ende gezahlten 170 Euro Millionen sorgt.

Die Chronologie des WM-Skandals

16. Oktober

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) räumt in einer Pressemitteilung Ungereimtheiten rund um eine Zahlung in Höhe von 6,7 Millionen Euro an den Weltverband Fifa ein.

16. Oktober

„Der Spiegel“ berichtet, dass für den Zuschlag der Fußball-WM 2006 Geld aus einer schwarzen Kasse des Bewerbungskomitees geflossen sei, um damit vier entscheidende Stimmen im Fifa-Exekutivkomitee zu kaufen. Das Geld soll von Ex-Adidas-Boss Robert Louis-Dreyfus gekommen sein.

17. Oktober

Erstmals äußert sich DFB-Präsident Wolfgang Niersbach: „Ich kann versichern, dass es (...) definitiv keine schwarzen Kassen beim DFB, dem Bewerbungskomitee oder dem Organisationskomitee gegeben hat.“

18. Oktober

Franz Beckenbauer meldet sich zu Wort und dementiert den „Spiegel“-Bericht: „Ich habe niemandem Geld zukommen lassen, um Stimmen für die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 nach Deutschland zu akquirieren. Und ich bin sicher, dass dies auch kein anderes Mitglied des Bewerbungskomitees getan hat.“

19. Oktober

Die Staatsanwaltschaft prüft einen Anfangsverdacht für ein Ermittlungsverfahren. Mögliche Tatbestände: Betrug, Untreue, Korruption.

19. Oktober

Niersbach weist die Korruptionsvorwürfe erneut zurück, räumt aber „den einen offenen Punkt“ ein: „Dass man die Frage stellen muss, (...) wofür diese Überweisungen der 6,7 Millionen verwendet wurden.“

21. Oktober

Die DFB-Landesverbände fordern von Niersbach eine schnelle Aufklärung der Vorwürfe.

22. Oktober

Niersbach tritt in Frankfurt sichtlich erschöpft vor die Presse und bringt nur wenig Licht ins Dunkel.

23. Oktober

Das DFB-Präsidium stärkt Niersbach den Rücken.

23. Oktober

Zwanziger bezichtigt Niersbach der Lüge und berichtet im „Spiegel“ von der mutmaßlichen Existenz einer schwarzen Kasse „in der deutschen WM-Bewerbung“. Es sei „ebenso klar, dass der heutige Präsident des DFB davon nicht erst seit ein paar Wochen weiß, wie er behauptet, sondern schon seit mindestens 2005“.

26. Oktober

Beckenbauer räumt in der Affäre erstmals einen „Fehler“ ein: Das Organisationskomitee hätte nicht auf einen Vorschlag der Fifa-Finanzkommission eingehen dürfen, um einen Finanzzuschuss zu bekommen.

3. November

Die Staatsanwaltschaft führt beim DFB eine Steuerrazzia durch. Zudem durchsucht sie die Wohnungen von Niersbach, Zwanziger und Ex-DFB-Generalsekretär Horst R. Schmidt. Der Verdacht: Steuerhinterziehung in einem schweren Fall.

6. November

„Der Spiegel“ veröffentlicht angeblich von Niersbach stammende handschriftliche Notizen auf einem Schreiben des WM-OK an die Fifa aus dem Jahr 2004. Diese sollen belegen, dass er nicht erst 2015 von den Vorgängen Kenntnis hatte.

9. November

Am Nachmittag trifft sich das DFB-Präsidium zu einer Sitzung mit Niersbach. Der 64-Jährige erklärt seinen Rücktritt.

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