Leyla Horn fiel als Jugendliche durch Gewalt und Respektlosigkeit auf. Durch Boxen fand die Veddelerin auf den Pfad der Tugend. Inzwischen ist sie 19 und gehört zur Hamburger Spitze.

Hamburg. Sie wird ihn nicht vergessen, diesen Tag vor gut sechs Jahren. Wie sie dasaß und diesem Mann zuhörte, den sie nicht kannte, aber der eine Geschichte erzählte, die ihre hätte sein können. Wie sie spürte, dass in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt wurde und sie plötzlich ihre Fehler vor sich sah und den Weg, wie sie ihnen in Zukunft entgehen könnte. Wie sie zu einem anderen, einem besseren Menschen werden könnte. Und sie wusste: Das ist die Chance, auf die ich gewartet habe.

Leyla Horn war damals eine dieser Jugendlichen, die Lehrer als „sozial auffällig“ bezeichnen, weil sie das Stigma „Problemkind“ vermeiden wollen. Sie störte notorisch den Schulunterricht und prügelte sich auf den Straßen auf der Veddel, wo sie lebte, regelmäßig. „Zu Hause war ich ein liebes Mädchen, aber in der Gruppe musste man sich beweisen, und das ging am besten durch Gewalt und Respektlosigkeit. Irgendwann hatte ich dann die Einstellung, dass mir alles am Arsch vorbeiging“, sagt sie.

Das ging so lange so, bis Christian Görisch, Mitbegründer des Schulprojekts „Box-Out“, im Jahr 2007 für ein Einführungsgespräch an der Schule Slomanstieg gastierte, die Leyla Horn besuchte. „Box-Out“ kümmerte sich damals um gewalttätig auffällige Kinder und Jugendliche, um ihnen in Kooperation mit den Schulen durch Boxtraining den Weg zur gewaltfreien Konfliktlösung und einer disziplinierten Lebensweise näherzubringen. Leyla, die als Tochter einer Deutschen und eines Albaners mit fünf Geschwistern und vier Halbgeschwistern in Berlin aufgewachsen war, hatte bis zu diesem Tag noch nie Boxhandschuhe angehabt, sie hatte lieber auf der Straße Fußball gespielt. „Aber ich wusste sofort, dass ich das, was Christian da erzählt hat, unbedingt ausprobieren wollte“, sagt sie.

Sechs Jahre später sitzt Leyla Horn in der Trainingshalle ihres Vereins BC Hanseat an der Seilerstraße auf St. Pauli und blickt zurück auf den Wendepunkt in ihrem Leben. Sie hat einen beeindruckenden Wandel hinter sich. Die Aggressionen gegenüber anderen hörten auf, sobald sie mit dem „Box-Out“-Kurs angefangen hatte. Ihre schulischen Leistungen stabilisierten sich in einer Form, die die Lehrer erstaunte und die ihr einen guten Hauptschulabschluss ermöglichte. Seit zwei Jahren lässt sich die Sportlerin bei „Box-Out“ zur Sport- und Fitnesskauffrau ausbilden, sie hat ihren Trainerschein gemacht und großen Gefallen daran gefunden, ihre Erfahrungen an Jugendliche weiterzugeben, denen es genauso geht wie ihr damals. Man kann es pädagogisch fragwürdig finden, dass eine in ihrer Persönlichkeit noch nicht ausgereifte 19-Jährige gewalttätige Jugendliche auf den Pfad der Tugend geleiten soll; aber für Leyla Horn ist es die große Chance, etwas zurückzugeben und eine Aufgabe zu haben, an der sie weiter wachsen kann.

Und dann ist da ja noch ihre eigene Boxkarriere. Sie hat nicht, wie viele andere „Box-Out“-Absolventen, nach erfolgreicher Kursteilnahme die Handschuhe wieder an den Nagel gehängt. Sie ist im Ring geblieben und hat sich mit der ihr eigenen Zähigkeit hochgearbeitet. „Ich hatte anfangs überhaupt kein Talent. Aber das, was ich mache, will ich immer mit 150 Prozent machen“, sagt sie. Ihr Trainer Hussein Ismail, mit dem sie seit knapp zwei Jahren arbeitet, schätzt an ihr die Einstellung und das Herz. „Sie ist diszipliniert und saugt alles, was man ihr beibringt, wie ein Schwamm auf. Und sie hat keine Angst“, sagt der Coach, der seinen Schützling oft, für seinen Geschmack zu oft, daran erinnern muss, dass zum Boxen auch eine stabile Deckung gehört.

Woher diese bedingungslose Härte gegen sich selbst kommt, kann Leyla Horn nicht sagen. Sie vermutet, dass die vielen Raufereien ihrer Jugend eine Immunität gegen Schmerzen hinterlassen haben. Vor Kämpfen ist sie wahnsinnig aufgeregt, aber wenn der erste Gong ertönt, ist jegliche Aufregung verschwunden, sie ist dann in einem Tunnel, der Kopf ist frei wie nirgendwo sonst, und sie spürt, dass sie lebt. Dass sie in ihrem Element ist, wie ein Windsurfer im Wasser oder ein Extremkletterer am Freihang.

Seit die hoch veranlagten Hansen-Geschwister Bineta und Carlota nach einem Streit mit dem Hamburger Verband nach Schleswig-Holstein abwanderten, zählt Leyla Horn, die als ihr großes Vorbild die Fliegengewichtsweltmeisterin Susi Kentikian nennt, in der Klasse bis 57 kg zur Hamburger Spitze. An diesem Wochenende will sie beim Hamburger Frauenbox-Turnier ein Zeichen setzen, dass auch international mit ihr zu rechnen ist. Wie bei so vielen boxenden Frauen lebt auch in ihr der Traum von einer Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro. „Aber das ist noch lange hin“, sagt sie, „in diesem Jahr will ich erst einmal deutsche Meisterin werden.“ 2012 war sie das in der Jugend, im vergangenen Jahr scheiterte sie bei den Erwachsenen an der Berliner Junioren-Weltmeisterin von 2011, Ornella Wahner.

Danach brauchte sie mehrere Wochen, um die Enttäuschung zu verarbeiten. Sie hat die Angewohnheit, sich vor großen Aufgaben selber so stark unter Druck zu setzen, dass ein Scheitern depressive Schübe zur Folge hat und ihr Selbstbild ins Wanken bringt, obwohl sie grundsätzlich an ihre Stärke glaubt. Boxen im Rückwärtsgang oder gar eine Kampfaufgabe, das sind Dinge, die für Leyla Horn überhaupt nicht zur Diskussion stehen. „Ich würde niemals aufgeben. Ich muss nur lernen, den Druck zu nutzen, um ihn in positive Energie umzusetzen, und nicht daran zu zerbrechen. Das ist meine größte Baustelle“, sagt sie. Für eine, deren ganzes Leben vor sechs Jahren eine Baustelle war, scheint das eine lösbare Aufgabe.