Mit Dennis Aogo zog sich der neunte WM-Kandidat eine schwere Verletzung zu. Leistungsträger wie Khedira, Schweinsteiger, Gündogan, Badstuber und Hummels fehlen langzeitverletzt. Werden die Profis zu stark belastet?

Den 3:0-Sieg am Sonnabend gegen den 1. FC Nürnberg haben die Spieler des FC Schalke 04 Dennis Aogo „gewidmet“. Erst vor einer Woche zeigten sich die Profis von Real Madrid vor dem 5:0 bei UD Almeria beim Mannschaftsfoto in T-Shirts mit der Aufschrift „Animo Sami“, „Kopf hoch, Sami“. Die Betroffenheit der Mitspieler ist immer groß und – darf man vermuten – ehrlich, wenn sich ein Kollege schwer verletzt. Das ist schließlich nicht nur eine Schwächung des eigenen Teams und der Aussicht auf den sportlichen Erfolg. Untergründig schwebt auch immer die Angst mit, es könnte einen irgendwann selber treffen.

Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch.

Aogo hatte es am Freitag im Abschlusstraining getroffen. Der vom HSV verliehene Linksverteidiger wurde bereits am Sonnabend in Herne am gerissenen vorderen Kreuzband operiert. Immerhin ist das Innenband nicht betroffen. Sechs Monate wird er dennoch ausfallen, mindestens. „Wir waren alle geschockt und wünschen ihm nur das Beste für eine schnelle Genesung. Jeder hat gegen Stuttgart für ihn gespielt“, sagte Jungstar Max Meyer. Auch Kevin-Prince Boateng, der schon als Jugendlicher einen Kreuzbandriss im Knie erlitten hatte, fühlte mit Aogo: „Den Sieg schenken wir ihm.“

Der 26-Jährige konnte seit seinem Wechsel nach Gelsenkirchen im Sommer wieder an die Leistungen anknüpfen, die ihn beim HSV zum Nationalspieler und WM-Teilnehmer 2010 gemacht hatten. „Er war in den letzten Wochen einer unserer konstantesten Spieler“, sagte Schalke-Manager Horst Held. „Er hatte sogar noch die Chance, auf den WM-Zug aufzuspringen.“ Das kann Aogo nach menschlichem Ermessen jetzt vergessen.

Sami Khedira hofft noch. Was natürlich auch mit der herausragenden Bedeutung des defensiven Mittelfeldspielers von Real Madrid für die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw zu tun hat. Khedira kann bei optimalem Heilungsverlauf nach seinem Riss des vorderen Kreuzbandes und dem des rechten Innenbandes mit einer Sonderbehandlung durch Löw rechnen, der 26-Jährige ist schließlich eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der deutschen Nationalmannschaft. Ihm wird bis zum allerletzten Moment die Chance offengehalten, noch mit nach Brasilien zu fahren. Wenn es denn irgendwie geht.

Holger Badstuber hat diesen Traum inzwischen aufgegeben. „Brasilien ist für mich in weiter Ferne“, erklärte der Abwehrspieler in einem Interview des „Focus“. Vor einem Jahr hatte der Nationalspieler einen ersten Riss des Kreuzbandes erlitten, ein zweiter folgte im vergangenen Mai. „Wann genau ich 100-prozentig fit sein werde, kann ich nicht sagen“, sagte Badstuber in dem Interview. „Ich habe seit einem Jahr genug Geduld bewiesen und werde diese auch weiter aufbringen.“

An dem gerade vergangenen Bundesligaspieltag fielen in den 18 Vereinen insgesamt 61 Spieler wegen diverser Verletzungen aus. Allein 23 von ihnen leiden zurzeit unter ernsthaften Knieproblemen. Vom Kreuzbandriss bis zur Meniskusquetschung ist alles dabei.

Acht Nationalspieler und WM-Kandidaten haben an diesem Wochenende in der Bundesliga gefehlt. Neben Aogo und Badstuber waren dies Mats Hummels (Bänderriss), Bastian Schweinsteiger (Sprunggelenk), Philipp Lahm (Muskelverhärtung), Sidney Sam, Marcel Schmelzer (beide Muskelfaserriss) und Ilkay Gündogan (Wirbelsäulenstauchung). In den ausländischen Ligen laborieren neben Khedira auch Miroslav Klose (Schulter), Lukas Podolski (Oberschenkel) und Mario Gomez (Innenband) an Verletzungen. Dazu fielen in der Bundesliga auch Topstars wie Klaas-Jan Huntelaar (Innenbandriss), Neven Subotic (Kreuzbandriss), Rafael van der Vaart (Bänderriss im Sprunggelenk) oder Franck Ribéry (Rippenbruch) aus.

„Ich kann mich nicht erinnern, wann wir bei der Nationalmannschaft zuletzt innerhalb so kurzer Zeit solche Verletzungen hatten“, sagte Joachim Löw. „Genauso wie bei Sami wünsche ich auch Mats und Marcel, dass die jeweilige Behandlung gut anschlägt und sie bald wieder auf dem Platz stehen werden.“ Für seine Planungen ist die derzeitige Situation schon bedrohlich, auch wenn er sich noch gelassen gibt: „Natürlich macht man sich seine Gedanken“, gab der Bundestrainer zu. Von seinem ursprünglichen Plan wird er im Fall Khedira jedenfalls abweichen: „Der Januar ist für mich die Grenze: Wenn ein Spieler normal in die Vorbereitung in der Winterpause startet und ein halbes Jahr alle Spiele macht, dann kann ich davon ausgehen, dass er in guter Form zu uns kommt“, sagte der Bundestrainer vor Khediras Verletzung.

Aber was ist da eigentlich los?

Sportmediziner rechnen bei Fußballprofis mit einer Verletzungshäufigkeit von elf bis 35 Verletzungen pro 1000 Spielstunden. Besonders gefährdet sind Oberschenkel (23 Prozent aller Fußballunfälle), Sprunggelenk (17 Prozent) und Knie (16 Prozent). Die Anforderungen an die Spitzenspieler sind in den vergangenen Jahren durch nationale und internationale Wettbewerbe ständig gewachsen. „Den Spielern fehlt deshalb häufig die Zeit zur Regeneration“, meint der Augsburger Sportmediziner Ulrich Boenisch in der „Zeit“. 54 Pflichtspiele musste Bayern München in der vergangenen Saison bewältigen. Dazu kamen noch 14 Länderspiele. Die Belastungen sind enorm.

„Die Zahl der Verletzungen hat in den letzten Jahren zugenommen“, hat Boenisch beobachtet. Der ärztliche Leiter der Hessenpark-Clinic in Augsburg hatte die Operation bei Sami Khedira vorgenommen. Das verletzte Band wurde dabei durch eine Sehne aus dem Körper des Patienten ersetzt. Auch der Hamburger Kniespezialist Carsten Lütten warnt vor der Gefahr, zu früh nach einer Verletzung wieder intensiv in den Leistungssport einzusteigen. „Verletzungen dürfen nicht bagatellisiert werden. Entscheidend ist, dass man auch kleine Verletzungen vernünftig ausbehandelt“, sagt der ehemalige Mannschaftsarzt des FC St. Pauli, der mit dem OrthoCentrum Hamburg und auch mit dem Olympiastützpunkt zusammenarbeitet. „Man darf annehmen, dass dies aber nicht immer passiert. Das liegt an dem Druck, den Trainer machen oder der Athlet sich selbst.“ Auch die Ärzte stehen unter Druck, räumt Boenisch ein: „Schafft der Patient ein Comeback in sechs Monaten, sind sie als Arzt der Held“, sagt er in der „Zeit“. Verletze er sich dagegen erneut, gingen die Patientenzahlen zurück.

Viele Spieler haben sich zudem an einen ständigen Schmerz gewöhnt. Oder sie betäuben ihn mit Schmerzmitteln. „Die extremsten Folgen davon sieht man bei Ivan Klasnic“, erinnert Lütten an den früheren St.-Pauli-Stürmer. Der 33-Jährige lebt seit 2007 mit einer Spenderniere seines Vaters. Sehr wahrscheinlich war seine Niereninsuffizienz eine Folge des jahrelangen Medikamentengebrauchs. Bei rund 20 Prozent der operierten Kreuzbandrisse kommt es zu einer Folgeverletzung. Siehe Badstuber. Durch neue Operationstechniken ist heute die Gefahr eines erneuten Risses allerdings geringer geworden, die „Ersatzbänder“ können besser platziert werden. Meist tritt ein zweiter Kreuzbandriss deshalb im anderen Knie auf.

Daran aber werden Khedira und Aogo und all die vielen anderen, weniger prominenten Patienten nicht denken. Sie wollen wieder spielen. So schnell wie irgend möglich. Egal zu welchem Preis.