Über 5000 Meter hat Claudia Pechstein die Bronze-Medaille gewonnen. Die Doping-Vorwürfe sind noch immer nicht abschließend geklärt.

Berlin. Erst umarmte Claudia Pechstein ihren Lebensgefährten Matthias Große und dann vor der TV-Kamera sogar die große Rivalin Stephanie Beckert: Mit der Bronzemedaille über 5000 Meter hat die 39-jährige Berlinerin ihr spektakuläres Comeback nach zweijähriger Sperre wegen erhöhter Blutwerte gekrönt. Pechstein ist damit die älteste Medaillengewinnerin von Eisschnelllauf-Weltmeisterschaften. Mit nunmehr 54 Medaillen (14/27/13) bei Olympia, WM und EM führt sie weiter die Rangliste der erfolgreichsten Eisschnellläuferinnen an.

Stephanie Beckert war im mit Spannung erwarteten Duell von Inzell in 6:54,99 Minuten sogar noch knapp sechs Sekunden schneller als Pechstein (7:00,90) und sorgte mit Silber für einen großen Erfolg der Deutschen. Es war nach Bronze über 3000 Meter die zweite Medaille für die blonde Thüringerin. Der Titel ging in 6:50,83 Minuten an Doppel-Olympiasiegerin Martina Sablikova. Die Tschechin gewann damit um vierten Mal in Serie diese WM-Distanz und holte ihr insgesamt siebtes WM-Gold.

„Mir fehlen die Worte, mir kommen die Tränen. Aber das sind Freudentränen“, sagte Pechstein nach dem Triumph. „Ich hab allen gezeigt, dass ich fähig bin in die Weltspitze zurückzukommen, das ist einfach nur der Hammer“, sagte sie im ZDF und räumte ein: „Es waren sehr sehr harte Jahre.“

Rivalin Stephanie Beckert gratulierte Pechstein und meinte: „Ich bin so glücklich über den zweiten Platz, das ist Wahnsinn. Ich habe alles gegeben“, meinte die Thüringerin strahlend und beendete auch öffentlich den Dauerstreit mit Pechstein:„Was heißt neuer Anfang? Ich denke, das ist im Sport so, sie hat ihren dritten Platz, ich meinen zweiten, das ist in Ordnung so.“ Pechstein ging ihr Rennen schnell an, auch wenn sie ihre Rundenzeiten von 32 Sekunden nach der vierten Runde nicht mehr halten konnte. Dennoch vermied aber einen größeren Abfall und lag am Ende in 7:00,90 sogar unter ihrer Zielstellung von 7:02 Minuten und behauptete bis zum vorletzten Paar mit Sablikova sogar die Spitze.

In den beiden anderen Konkurrenzen des Tages gab es für die Deutschen nichts zu holen. Über 10 000 Meter bewies der Münchner Marco Weber aber Stehvermögen und kam in in 13:26,84 Minuten auf den achten Platz. „Ich war nicht topfit, bin mit meinem Lauf aber sehr zufrieden“, sagte der gebürtige Sachse, der in den kommenden Wochen überlegen will, ob er seine Karriere fortgesetzt. Seinen zweiten Titel in Inzell holte sich Oldie Bob de Jong. In

12:48,20 Minuten lief der 34 Jahre alte Routinier zur schnellsten Zeit, die je auf einer Bahn in Europa erzielte wurde. Er verlängerte die Gold-Bilanz der Holländer, die seit 1996 noch nie ein WM-Rennen auf der längsten Strecke verloren haben. Der deutsche Rekordhalter Patrick Beckert (Erfurt) hatte das Rennen kurzfristig wegen Halsschmerzen absagen müssen. Über 1000 Meter durchbrach Olympiasiegerin Christine Nesbitt aus Kanada hat die Siegesserie der niederländischen Eis-Königin Ireen Wüst und verhinderte deren drittes Gold in Inzell. In 1:14,84 Minuten blieb die Sprint-Weltmeisterin nur haarscharf über der Bestzeit für europäische Bahnen, die weiter im Besitz von Anni Friesinger (1:14,81 in Hamar) bleibt. Die deutschen Läuferinnen erlitten ein Debakel. Monique Angermüller aus Berlin war in 1:17,33 auf Platz 13 noch die Beste und kommentierte: „Das war ein verdammt schlechtes Jahr.“ Sprint-Trainer Thomas Schubert wollte zu den dürftigen Resultaten gar nicht Stellung nehmen: „Wenn ich jetzt etwas sage, bereue ich es heute Abend wieder.“

Ärzte haben sich in den zurückliegenden Monaten intensiv mit dem Fall Pechstein auseinandergesetzt. "Dabei sind Wissenschaftler mithilfe zweier neuer Messverfahren zu dem Ergebnis gekommen, dass Frau Pechstein an einer seltenen erblichen Störung des Blutaufbaus leidet, die zur Erhöhung ihrer Retikulozytenwerte führt", sagte der Dresdner Professor Gerhard Ehninger, geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO). Im Fachjargon ist von einer hereditären Sphärozytose oder Kugelzellanomalie die Rede (siehe Kasten unten).

Ehninger und seine Kollegen fühlten sich berufen, mit den neuen Erkenntnissen selbst an die Öffentlichkeit zu gehen - Pechstein war nur Gast -, und organisierten eine Pressekonferenz in Berlin. Zum einen, weil Gutachten missinterpretiert worden seien, "unerträglich" nannte Ehninger das. Zum anderen fühlten sie sich von "fanatischen Dopingjägern" diskreditiert.

Das Problem sind Pechsteins Retikulozytenwerte. Die liegen bei ihr über dem Normalbereich. Nach Meinung des Eislauf-Weltverbandes ISU kann dafür nur die Anwendung verbotener Mittel verantwortlich sein. In seinem Urteil vom 25. November 2009 teilte der Internationale Sportgerichtshof Cas diesen Schluss und bestätigte Pechsteins Sperre bis zum 9. Februar 2011. Für den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) bleibt das Cas-Urteil bindend.

Aber in Lausanne, sagte Ehninger, sei einiges schiefgelaufen: "Für mich ist das Cas-Urteil Käse." Die Hinweise auf eine Erkrankung seien "nicht ausreichend gewürdigt, falsch zitiert oder in der Urteilsbegründung tendenziös dargestellt" worden.

Diagnostiziert wurde Pechsteins Anomalie erst nach dem Urteil. Andreas Weimann, Oberarzt am Zentralinstitut für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie der Berliner Charité, hat im Dezember sechs Blutproben bei Pechstein entnommen und neu ausgewertet. "Die Gesamtkonstellation aller Befunde beweist eindeutig das Vorliegen einer hereditären Membranopathie im Sinne einer Sphärozytose", heißt es in Weimanns Bericht.

Die Kugelzellanomalie liegt bei der 38 Jahre alten Berlinerin in einer leichten Form vor. Weimann hat auch Pechsteins Familie untersucht und festgestellt, dass sie die Krankheit "von ihrem Vater geerbt hat". Auch er weist erhöhte Werte auf.

Ehningers Sicht auf den Fall hat sich mit den neuen Daten gewandelt. Anfangs hatte auch er von möglichem Doping gesprochen. "Jetzt wissen wir, was die Ursachen sind. Die Zweifel sind ausgeräumt. Die Beweiskette ist geschlossen", sagt er und wird von den Professoren Winfried Gassmann (Siegen) sowie Wolfgang Jelkmann (Lübeck) unterstützt, die als Gutachter in dem Verfahren tätig waren. Gassmann fügt hinzu, dass es nicht nur um ein mögliches Epo-Doping gehe, sondern um "alle knochenmarkstimulierenden Substanzen". Für ihn sei auch kein Doping mit Wachstumshormonen denkbar. Was die neuen Erkenntnisse allerdings bewirken, bleibt unklar. Vor dem Schweizer Bundesgericht ist ein Revisionsantrag anhängig, mit dem eine Neuauflage des Cas-Verfahrens erreicht werden soll.

"Es gibt jetzt neue Umstände, da muss der Gerechtigkeit genüge getan werden", sagt der Heidelberger Sportrechtsanwalt Michael Lehner. "Es gibt keine Alternative zu einem erneuten Verfahren."

Die von Ehninger erwähnten Dopingjäger zeigen sich unbeeindruckt. "Ich glaube nicht, dass der Befund Frau Pechstein in irgendeiner Form entlastet, weil die hohen Retikulozyten-Werte dadurch nicht erklärt werden", sagte der Nürnberger Pharmakologe Fritz Sörgel. "Was ihren Dopingfall betrifft, ist dadurch überhaupt nichts geklärt."

Claudia Pechstein freut sich über das Engagement der Mediziner: "Aber ich weiß: Das ist nur ein erster Schritt in die richtige Richtung." Wobei das nicht mehr als eine vage Hoffnung ist. Denn offenbar sind die Einschätzungen in diesem Fall nicht in Einklang zu bringen. Die Zweifel an der Sperre haben zwar neue Nahrung erhalten, aber im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden, davon hat sich die Sportgerichtsbarkeit bei Claudia Pechstein nie leiten lassen.