Hämatologen sagen: Die Vorwürfe sind haltlos. Die Eisschnellläuferin fordert ein neues Verfahren. Doch die Dopingfahnder sehen keine Klärung.

Berlin. Als alle Statements abgegeben und alle Fragen beantwortet waren, trat Claudia Pechstein ans Podium und bedankte sich bei jedem der vier Herren. Unter den Kameraleuten und Fotografen löste das tumultartige Szenen aus; jeder wollte in der ersten Reihe stehen, wenn die gesperrte Eisschnellläuferin ihren vermeintlichen Ehrenrettern die Hand schüttelt. Denn die vier Herren, allesamt hoch angesehene Mediziner, glauben zu wissen, dass die fünfmalige Olympiasiegerin fälschlich des Dopings beschuldigt wird.

Die Ärzte haben sich in den zurückliegenden Monaten intensiv mit dem Fall Pechstein auseinandergesetzt. "Dabei sind Wissenschaftler mithilfe zweier neuer Messverfahren zu dem Ergebnis gekommen, dass Frau Pechstein an einer seltenen erblichen Störung des Blutaufbaus leidet, die zur Erhöhung ihrer Retikulozytenwerte führt", sagte der Dresdner Professor Gerhard Ehninger, geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO). Im Fachjargon ist von einer hereditären Sphärozytose oder Kugelzellanomalie die Rede (siehe Kasten unten).

Ehninger und seine Kollegen fühlten sich berufen, mit den neuen Erkenntnissen selbst an die Öffentlichkeit zu gehen - Pechstein war nur Gast -, und organisierten eine Pressekonferenz in Berlin. Zum einen, weil Gutachten missinterpretiert worden seien, "unerträglich" nannte Ehninger das. Zum anderen fühlten sie sich von "fanatischen Dopingjägern" diskreditiert.

Das Problem sind Pechsteins Retikulozytenwerte. Die liegen bei ihr über dem Normalbereich. Nach Meinung des Eislauf-Weltverbandes ISU kann dafür nur die Anwendung verbotener Mittel verantwortlich sein. In seinem Urteil vom 25. November 2009 teilte der Internationale Sportgerichtshof Cas diesen Schluss und bestätigte Pechsteins Sperre bis zum 9. Februar 2011. Für den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) bleibt das Cas-Urteil bindend.

Aber in Lausanne, sagte Ehninger, sei einiges schiefgelaufen: "Für mich ist das Cas-Urteil Käse." Die Hinweise auf eine Erkrankung seien "nicht ausreichend gewürdigt, falsch zitiert oder in der Urteilsbegründung tendenziös dargestellt" worden.

Diagnostiziert wurde Pechsteins Anomalie erst nach dem Urteil. Andreas Weimann, Oberarzt am Zentralinstitut für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie der Berliner Charité, hat im Dezember sechs Blutproben bei Pechstein entnommen und neu ausgewertet. "Die Gesamtkonstellation aller Befunde beweist eindeutig das Vorliegen einer hereditären Membranopathie im Sinne einer Sphärozytose", heißt es in Weimanns Bericht.

Die Kugelzellanomalie liegt bei der 38 Jahre alten Berlinerin in einer leichten Form vor. Weimann hat auch Pechsteins Familie untersucht und festgestellt, dass sie die Krankheit "von ihrem Vater geerbt hat". Auch er weist erhöhte Werte auf.

Ehningers Sicht auf den Fall hat sich mit den neuen Daten gewandelt. Anfangs hatte auch er von möglichem Doping gesprochen. "Jetzt wissen wir, was die Ursachen sind. Die Zweifel sind ausgeräumt. Die Beweiskette ist geschlossen", sagt er und wird von den Professoren Winfried Gassmann (Siegen) sowie Wolfgang Jelkmann (Lübeck) unterstützt, die als Gutachter in dem Verfahren tätig waren. Gassmann fügt hinzu, dass es nicht nur um ein mögliches Epo-Doping gehe, sondern um "alle knochenmarkstimulierenden Substanzen". Für ihn sei auch kein Doping mit Wachstumshormonen denkbar. Was die neuen Erkenntnisse allerdings bewirken, bleibt unklar. Vor dem Schweizer Bundesgericht ist ein Revisionsantrag anhängig, mit dem eine Neuauflage des Cas-Verfahrens erreicht werden soll.

"Es gibt jetzt neue Umstände, da muss der Gerechtigkeit genüge getan werden", sagt der Heidelberger Sportrechtsanwalt Michael Lehner. "Es gibt keine Alternative zu einem erneuten Verfahren."

Die von Ehninger erwähnten Dopingjäger zeigen sich unbeeindruckt. "Ich glaube nicht, dass der Befund Frau Pechstein in irgendeiner Form entlastet, weil die hohen Retikulozyten-Werte dadurch nicht erklärt werden", sagte der Nürnberger Pharmakologe Fritz Sörgel. "Was ihren Dopingfall betrifft, ist dadurch überhaupt nichts geklärt."

Claudia Pechstein freut sich über das Engagement der Mediziner: "Aber ich weiß: Das ist nur ein erster Schritt in die richtige Richtung." Wobei das nicht mehr als eine vage Hoffnung ist. Denn offenbar sind die Einschätzungen in diesem Fall nicht in Einklang zu bringen. Die Zweifel an der Sperre haben zwar neue Nahrung erhalten, aber im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden, davon hat sich die Sportgerichtsbarkeit bei Claudia Pechstein nie leiten lassen.