Die Olympischen Winterspiele 2010 waren Spiele der Superlative. Doch Glück und Trauer lagen auch selten so nah beieinander.

Vancouver. Gregor Robertson hat die zwei Wochen genossen. Er war mehrmals beim Eishockey, beim Curling, beim Eiskunstlaufen, auch nach Whistler in die Berge ist er gefahren. "Das waren prächtige Spiele, wir hatten alle viel Spaß", sagt er und lacht.

Gregor Robertson ist der Bürgermeister Vancouvers. Für ihn, die Stadt und das Land endet heute die größte Party, die Kanada je erlebt hat. Die Flamme der 21. Olympischen Winterspiele ist in der Nacht erloschen, der Alltag kriecht an diesem grauen Morgen zurück in die Millionen-Metropole am Pazifik. Robertson will am Dienstag wieder an seinem Schreibtisch sitzen. In einer Woche tagt der Finanzausschuss des Parlaments, und der Bürgermeister wird sich dort unbequemen Fragen stellen müssen: Haben sich die Spiele gelohnt, was wird aus den versprochenen Wohnungsbauprojekten, was wird gegen die Obdachlosigkeit geplant, wie können wir den Schwung Olympias in die Zukunft nehmen? Die Antworten werden ihm nicht leichtfallen. Ein Loch von rund einer Milliarde Euro haben die Winterspiele in die Kassen der Stadt und der Provinz British Columbia gerissen, Sparen droht zum bestimmenden politischen Programm der nächsten Jahre zu werden. Robertson ist bei diesem Gedanken unwohl, und er hat deshalb immer wieder gefordert: "The Games must go an!" In den Köpfen, in den Herzen, in dem Willen, neue große Ziele anzupacken. Zumindest mit den Paralympics kehrt die olympische Familie am 12. März noch einmal für zehn Tage zurück nach Vancouver.

Olympische Spiele sind heute ein riesiges Geschäft - aber eben nicht für alle. Rund vier Milliarden Euro kassiert das Internationale Olympische Komitee (IOC) mit dem Verkauf exklusiver Rechte an Sponsoren und Fernsehanstalten für seine Veranstaltungen in Vancouver und London 2012. Operativ rechnet sich das Sportfest auch für die Organisatoren. Sie verdienen hauptsächlich am Verkauf der Eintrittskarten. Eine schwarze Null erwarten die Kanadier, ein kärglicher Lohn für zehn Jahre harte Arbeit. Bleiben die sieben Milliarden Euro staatliche Investitionen, Geld der Steuerzahler, die ein Wechsel auf steigende Tourismuszahlen, mehr Einwohner und damit neue Einnahmequellen sind. "Dank Olympischer Spiele wird der Bau von Straßen und Schienenwegen vorgezogen, auf den die Menschen sonst oft Jahrzehnte warten müssten", sagt Thomas Bach. Das Thema ärgert ihn. Er redet dann lauter, eindringlicher, "weil hier immer wieder Dinge unzulässig vermischt werden, die man sauber voneinander trennen muss". Dass Olympia auch Gegner hat, weiß keiner besser als er.

Bach ist Vizepräsident des IOC, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und Chef der Münchner Bewerbungsgesellschaft für die Winterspiele 2018. Er kämpft für diese Kandidatur. Und die heiteren Spiele in Vancouver, die weltweit positive Resonanz auf sie, haben ihn bestätigt, dass sich dieser Einsatz lohnt. "Es ist den Kanadiern gelungen, mit sympathischem Patriotismus, jedoch ganz ohne Nationalismus, eine ganze Stadt, ein ganzes Land zum Vibrieren zu bringen", sagt Bach. "Wie der olympische Geist entfacht, wie in Downtown Vancouver und Whistler täglich fast rund um die Uhr gefeiert worden ist, das war vom Allerfeinsten. Aber: Das können wir in München auch. Deutschland ist ein herzlicher, weltoffener Gastgeber. Das hat nicht nur die Fußball-WM 2006 gezeigt, sondern die mehr als zehn Weltmeisterschaften, die wir in den vergangenen Jahren in olympischen Sportarten veranstaltet haben." 75 Prozent der Deutschen, ergaben Umfragen, befürworten die Münchner Bewerbung. Proteste in der Stadt und den angrenzenden Gemeinden tut Bach ab: "Das sind Einzelinteressen, das ist keine Bewegung." Vancouver 2010, das bleibt unumstritten, hat das Image der fünf Ringe wieder aufpoliert. Nach den Polizei- und Militärspielen im August 2008 in Peking, als Olympia mithilfe des IOC in die Propagandaindustrie der chinesischen Diktatoren geriet, kehrte der Sport in den Mittelpunkt des Interesses von Medien und Zuschauern zurück. Die Spiele wurden zur Bühne für frische, unverbrauchte Gesichter wie die Biathletin Magdalena Neuner (23) und die Skirennläuferin Maria Riesch (25), die mit jeweils zwei Olympiasiegen nach Deutschland heimkehren. Millionen an den Bildschirmen verfolgten ihre Triumphe, Olympia machte mit faszinierenden, eindringlichen Bildern Quote, die selbst ARD und ZDF überraschte. Sogar der deutsche Fußball-Rekordmeister Bayern München musste sich bei seinem Champions-League-Spiel gegen den AC Florenz hinten anstellen.

Vancouver 2010 war ein Frühlingsmärchen bei Temperaturen zwischen zehn und 14 Grad. Nicht einmal der häufige Regen kühlte die sensationelle Stimmung ab. In Vancouver regnet es an 139 Tagen im Jahr. Kein Land scheint als Treffpunkt unterschiedlicher Ethnien besser geeignet als Kanada, in dem Multikulti als Staatsziel in der Verfassung verankert ist. Kanada ist offiziell ein Einwanderungsland. Toleranz wird in Vancouver gelebt. Gewalt blieb aus, die Polizei stand bei der größten und längsten Party aller Zeiten nur Spalier.

Nicht jede Form der Ausgelassenheit und Siegestrunkenheit allerdings wurde akzeptiert. Die kanadischen Eishockeyspielerinnen, die zum dritten Mal in Folge Olympiagold holten, meinte das IOC, hätten dann doch über die Stränge geschlagen. Nach ihrem finalen 2:0 über Weltmeister USA kehrten sie mit Bierdosen, Champagnerflaschen und Zigarren aufs Eis zurück. Die Sause wurde zum Politikum, weil die zweifache Torschützin Marie-Philip Poulin in der Öffentlichkeit Alkohol trank. Sie ist 18. In der Olympiaprovinz British Columbia ist dies erst mit 19 gestattet. Die Kanadierinnen entschuldigten sich. Das IOC verzichtete auf ein Verfahren.

Zwei Tage zuvor war Staatsrätin Jane Thornthwaite mit ihrem Auto von einer Polizeistreife angehalten worden. Sie hatte Alkohol getrunken. In Kanada gilt im Straßenverkehr die Null-Promille-Grenze. Thornthwaite fühlte sich als Opfer der Spiele. Beim Besuch des russischen Eisdomes in der Nähe des olympischen Dorfes hätte sie "in aller Freundschaft" mit Wodka auf die Winterspiele 2014 in Sotschi anstoßen müssen. Wieder nüchtern räumte Thornthwaite ein, "ihr Handeln sei unverantwortlich" gewesen. Rücktrittsforderungen lehnte sie ab. Sie habe niemandem geschadet. Am vergangenen Freitag wurde die Staatsrätin wieder bei den Russen gesehen. Diesmal fuhr sie mit dem Taxi nach Hause.

Aber Vancouver 2010 waren nicht nur beschwingte Spiele. Als das Spektakel vor 17 Tagen begann, stellte sich bereits die Frage nach seinem Sinn. Erstmals in der Geschichte Olympias musste ein Athlet seinen Traum des Dabeiseins mit dem Leben bezahlen. Der georgische Rodler Nodar Kumaritaschwili war beim Abschlusstraining im Eiskanal von Whistler in der letzten Kurve aus der Bahn geflogen und gegen einen ungeschützten Stahlträger geprallt. Noch am selben Tag wurde diese mit Schaumstoff ummantelt, die Stelle des Abfluges mit Brettern vernagelt. Für Nodar Kumaritaschwili kamen diese Maßnahmen zu spät. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Tod des 21-Jährigen löste Betroffenheit und ehrliche Trauer aus, ein Umdenken nicht. Die Wettbewerbe gingen mit rasender Geschwindigkeit weiter, die Stürze ebenfalls. Selbst erfahrene Piloten konnten leichte Fahrfehler nicht ausgleichen, die Bahn, die schnellste der Welt, verzieh sie nicht. Die deutsche Bobfahrerin Romy Logsch brach sich das Sprunggelenk.

Zwei Kilometer weiter, im alpinen Skizentrum von Whistler, brachte beim Abfahrtsrennen der Frauen der extreme Steilhang gleich sechs Läuferinnen zu Fall. Die anspruchsvolle Piste stellte selbst die Besten vor Probleme. Die Schwedin Anja Pärson (28), Olympiasiegerin und siebenmalige Weltmeisterin, war an einem Sprung gleich 60 Meter durch die Luft getragen worden. Beim Aufprall zog sie sich am ganzen Körper blaue Flecken zu. Am nächsten Tag stand sie wieder auf Skiern. An ihrem Urteil änderte das nichts: "Die Strecke ist mörderisch." Der enge Zeitplan, Nebel und Verschiebungen hatten zudem nur eingeschränktes Training zugelassen. "Es war der Wahnsinn", sagte Pärson, "du hattest praktisch keine Möglichkeit, auf diesem extremen Kurs die richtige Linie zu finden und auszuprobieren." The Games must go on - schneller, höher, stärker. Der Athlet, das wurde in Vancouver deutlich, droht immer öfter von fremden Interessen, von Kommerz und Fernsehzeiten, bestimmt zu werden. Für deren Risiken und Nebenwirkungen haftet er allein. Dabei kann kein Zuschauer, keine Fernsehkamera unterscheiden, ob ein Bob oder Abfahrtsläufer 20 Stundenkilometer schneller oder langsamer unterwegs ist. Die Fachverbände sind gefordert, dem Treiben Einhalt zu bieten. Ihr verständlicher Wettstreit um Sponsoren und Sendeminuten darf nicht zum Überlebenskampf werden. Citius, altius, fortius - mortuus. Schneller, höher, stärker - tot. Es wäre das Ende der Spiele.

Markus Dünzkofer würde das bedauern. "Die Spiele haben in Vancouver viel Gutes in Bewegung gesetzt. Sie haben in den Menschen Hoffnungen geweckt. Sie haben gesehen, was sie erreichen können, wenn sich alle für eine Sache engagieren. Dieses Bewusstsein müssen wir mitnehmen, denn es gilt in den nächsten Jahren, schwierige soziale Probleme zu lösen, die Obdachlosigkeit, den Drogenkonsum, das Gefälle zwischen Arm und Reich." Dünzkofer, dessen Mutter aus Hamburg stammt, ist Pfarrer an der anglikanischen Kirche im West End von Vancouver. Vor fünf Jahren kam der Deutsche in die Stadt, gern würde er für immer bleiben. "Ich weiß nicht, ob Sie das schon bemerkt haben", sagt er, "die Kirschbäume haben angefangen zu blühen. Auch deshalb lieben wir Vancouver. Es ist ein Traum - auch ohne Olympische Spiele. Ich fürchte aber, ein bisschen vermissen werde ich sie schon."