Nizza. Seit mehr als 100 Jahren fährt der „Train des Pignes“ in Südfrankreich – zwischen der Côte d’Azur und der Alpenregion Haute-Provence.

Max Julien ist zufrieden. In den schnurgeraden, lila leuchtenden Reihen summt und brummt es. Bienen und Hummeln suchen nach Nahrung. Ein kräftiger, fast schwülstiger Duft weht übers Feld. „Im Frühjahr gab es einige Regentage, jetzt ist es heiß und trocken. Der Lavendel hat sich prächtig entwickelt“, sagt der 68-Jährige und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Rund 15 Hektar Lavendel sind Max Juliens Passion.

„Überwiegend bauen wir die Sorte ­Lavandin grosso an. Sie hat einen kräftigen Lilaton und kann bis zu 80 Zenti­meter hoch werden“, sagt Max. „Wir destillieren den Lavendel selbst. Die gewonnene Essenz, das ätherische Öl, findet bei der Parfümherstellung in Grasse Verwendung, aber auch in der Kosmetik-, der Waschmittel- und Arzneimittelindustrie.“

Plötzlich übertönt ein kurzes Rauschen das Summen der Bienen. Zwei orange Dieseltriebwagen des „Train des Pignes“ surren über den steinernen ­Viadukt, der sich unweit des Bauernhofs bei Saint-Jurson befindet.

Seit 1911 befährt der „Pinienzapfenzug“ die 151 ­Kilometer lange Strecke zwischen Nizza an der Côte d’Azur und Digne-les-Bains in der Haute-Provence. Pendler, die im Hinterland wohnen, nutzen ihn ebenso wie Einheimische und Touristen, die für ein paar Tage Enge und Trubel der Großstadt entfliehen wollen.

Ganzjährig startet viermal am Tag ein Zug je Richtung

Die Reise beginnt am modernen Bahnhof der „Chemins de Fer de Provence“ mitten in Nizza. Viermal am Tag startet ganzjährig ein Zug je Richtung. Entweder geht ein alter blauweißer Triebwagen oder eine der drei modernen orangefarbenen Zug­garnituren auf die meterspurige Schiene. Bei Letzteren sorgen bequeme, rot gepolsterte Schalensitze und getönte Panoramafenster auf der knapp dreieinhalbstündigen Reise für Entspannung.

Eine Anzeigetafel weist auf den nächsten Stopp hin. Davon gibt es mehr als 50. Es sind mal Bahnhöfe, mal kleine Bedarfshalte mit Wartehäuschen. Hinter Lingostière, wo sich das Depot des Train des Pignes befindet, zieht sich die Strecke an dem Fluss Var entlang. Das Flussbett, durch das manchmal nur ein kleines Rinnsal plätschert, verläuft bis nach Puget-Théniers.

Lavendelbauer Max Julien.
Lavendelbauer Max Julien. © Axel Baumann | AXEL BAUMANN

Es war im Jahr 1975, als einige Bahnenthusiasten den Verein gründeten, dem heute 400 Mitglieder angehören. Sie unterhalten den „Train à Vapeur“, einen historischen Dampfzug. „Von Mai bis Oktober sind wir ­damit regelmäßig sonntags zwischen Pugét-Théniers und Annot unterwegs“, sagt Lokführer ­Stéphane Faraut, während die beiden Heizer Guillaumes und Frédéric die Lager ölen und das schwarze Dampfross auf Hochglanz ­polieren.

„Die Lokomotive wurde 1923 von der ­Firma Henschel in Kassel gebaut und war über 60 Jahre lang in Portugal im Einsatz. Mit ­einem defekten Boiler kam sie nach Frankreich und wurde vor einigen Jahren wieder flottgemacht.“ Eine Stunde lang zuckelt der Zug mit 30 km/h über zahlreiche Viadukte und weiter am Fluss entlang bis in die mittelalterliche Stadt Annot. Unterwegs ein Halt in Entrevaux.

Wie ein bewohntes Freilichtmuseum

Wie in vielen Bahnhöfen entlang der Trasse ist auch in Entrevaux die Bahnhofsuhr längst stehen geblieben. Ein warmer Sommerwind fegt über die teils von Unkraut überwucherten Gleise. Ein Pfiff vom Dampfross mahnt zum Aufbruch zur letzten Etappe. Wie ein bewohntes Freilichtmuseum mit Bauten aus Mittelalter und Renaissance wirkt Annot, das der Zug über einen hohen Viadukt erreicht.

Das Städtchen wird nicht von einer Festung, sondern von bizarren Kalksandsteinformationen überragt, an denen sich zahlreiche Kletterer versuchen. Echte „Pufferküsser“ verbringen den dreistündigen Aufenthalt lieber mit gezückten Kameras am Bahnhof, statt durch die „Grès d’Annot“ zu wandern. Denn schließlich muss die Lokomotive für die Rückfahrt auf einer Drehscheibe in die richtige Richtung gebracht werden.

Wer nicht mit im Dampfzug nach Puget-Théniers zurückfahren möchte, der kann in den regulären Zug in ­Richtung Digne-les-Bains einsteigen. Das ist heute ein alter blauweißer Triebwagen. Hier sitzt Lokführer Jean nicht abgetrennt in einer geschlossenen ­Kabine wie bei den neuen orangen ­Fahrzeugen, sondern direkt im Fahrgastraum. Ganz lässig mit übergeschlagenem Bein und einem Café au lait in der Hand.

Während der Fahrt lässt er sich über die Schulter ­schauen und beantwortet neugierige Fragen: Wie kam der Zug zu seinem Namen? ­„Dazu gibt es unterschiedliche Legenden“, ­sagt Jean: „Eine besagt, dass die Bahn einst so langsam fuhr, dass die Passagiere unterwegs ausstiegen und Pinienzapfen sammelten – für den heimischen Herd und um der Lok zusätzlich einzuheizen. Heute dagegen rauschen wir je nach ­Gegend mit 40 bis 80 Kilometern pro Stunde durch die Landschaft.“

Schwindelerregend ist der Blick über den Gebirgsfluss

Die Strecke gewinnt an Höhe. Pinien- und Lärchenwälder werden dichter. Schroff ragen Kalksandsteinfelsen empor. Bei La-Colle-Saint-Michel durchfährt der Zug den mit fast dreieinhalb Kilometern längsten von insgesamt 25 Tunneln. Kurz darauf ist der Schei­telpunkt erreicht.

Von 1000 Metern ­abwärts quietscht der Train des Pignes durch viele Kurven und balanciert über schmale Brücken wieder einige Hundert Meter hinab bis zur Lavendelhauptstadt Digne-les-Bains. „Man nennt den ­Pinienzapfenzug auch TGV“, erklärt Jean: „Nicht Train à Grande ­Vitesse, sondern Train à Grande Vibration.“ Schwindelerregend ist der Blick aus dem Zugfenster entlang des wilden Gebirgsflusses Verdon.

Mit nur rund zehn Minuten Verspätung fährt der Triebwagen in die ­Endstation ein. Digne-les-Bains verdankt seine Glanzzeit während der Belle Époque vor mehr als 100 Jahren seinen heißen Quellen.

In der 17.000-Ein­wohner-Kurstadt gibt es mehrere ­Museen: das städtische Museum ­Gassendi, das sich der lokalen ­Geschichte, der Wissenschaft, zeit­genössischer und traditioneller Kunst widmet, das Musée de la ­Lavande, das Anbau, Ernte und ­Verarbeitung des ­Lavendels von 1900 bis heute demonstriert, sowie das ­Musée Promenade, ein Naturkundemuseum mit schöner Parkanlage, in dem die frühe Erdgeschichte veranschaulicht wird.

Morgens um viertel nach sieben verlässt der erste Zug Digne-les-Bains Richtung Nizza. Kurz darauf, am Bahnhof Saint-Jurson steigt Max Julien ein. „Hin und wieder muss auch ich mal Großstadtluft statt Lavendelduft schnuppern“, sagt er und schmunzelt: „Der Train des Pignes ist meine Verbindung zur Außenwelt.“

Weitere Informationen

Anreise ab Hamburg z. B. nonstop mit Easyjet nach Nizza.

Pinienzapfenzug Der Train des Pignes befährt die Strecke zwischen Nizza und Digne-les-Bains ganzjährig. Ticket für die gesamte Strecke: 24,10 Euro. Von Mai bis Oktober ist jeden Sonntag zwischen Puget-Théniers, Entrevaux und Annot ein nostalgischer Dampfzug („Train à Vapeur“) im Einsatz. Preis hin und zurück: 20 Euro, Reservierung erforderlich: Tel. 0033/4/97 03 80 80.

Unterkünfte entlang der Strecke: z. B. im Hotel Villa St-Hubert, 26, Rue Michel-Ange in Nizza, Tel. 0033/4/93 84 66 51, Doppelzimmer ab 65 Euro, Frühstück 7 Euro, www.villasainthubert.com.

Hotel de ll’Avenue, Avenue de la Gare in Annot, Tel. 0033/4/ 92 83 22 07, Doppelzimmer ab 80 Euro, Frühstück 8 Euro, www.hotel-avenue.com.

Hotel Tonic, 36, Avenue des Thermes in Digne-les-Bains, Tel. 0033/4/92 32 2031, Doppelzimmer ab 72 Euro, Frühstück 9,90 Euro, www.hotel-tonic-digne.com.

Auskunft Region Côte d’Azur/Nizza: www.cotedazur-tourisme.com; Region Alpes de Haute-Provence/Digne-les-Bains: www.alpes-haute-provence.com; Nizza: www.nicetourisme.com.

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Côte d’Azur Tourisme, ADT – Alpes de Haute-Provence und Provence-Alpes-Côte d’Azur Tourisme.)