Im Sommer ist Ascona Flaniermeile der Reichen und Schönen. Im Spätherbst zeigt die Stadt in der Schweiz ihre melancholische Seite.

An einem kalten Nachmittag im November ist es in Ascona am Schweizer Ufer des Lago Maggiore so leer und ruhig wie damals, als Mascha Kaléko hier ihren stimmungsvollen „Novemberbrief“ schrieb. Als wäre die Zeit stehen geblieben, so erscheint es heutigen Ascona-Besuchern beim Lesen ihrer Zeilen. Sie beschreibt das „Miniatur-Vineta“, das wie „mit Silberlichtern bestreut“ aus dem See auftaucht: „die herbstlich verzauberte Isola di Brissago“. Und ganz genauso erscheint sie noch heute, die Insel vor den schneebedeckten Schweizer Bergen, auf der bunte Laubbäume fröhliche Farbtupfer in die sonst so trübe Landschaft streuen.

Ascona? „… Im November?“, fragt die Dichterin gleich zu Beginn ihres Briefs. „Nein, im November reist ‚man‘ nicht nach Ascona. Nun, da ich hier bin, weiß ich auch warum.“ Nichtsdestotrotz hat die Stadt, die im Sommer als Flaniermeile der Reichen und Schönen gilt, auch im Nebel ihren ganz besonderen Charme. Und „Stille gibt es, wenn man sie sucht, und einen Winter, der nachdenklich stimmt, zur Klausur“.

Grauwetterromantik nennen wir das heute – und auch Kaléko wusste die herbstliche Romantik und Ruhe zu schätzen: „Doch diese Art von Stille ist noch nicht in ­Mode. Das ist gut so … Einstweilen aber sitze ich, Fremdling unter Ortsansässigen, in meiner lieblichen Casa Bertolli, und Ascona gehört mir.“ Bis heute ist die Ruhe von Ascona im November nicht in Mode, und vereinzelte Besucher, die sich hierher verirren, schwelgen beim Blick auf den stahlgrauen See in Kalékos Worten.

Dies war auch die Wahlheimat von Erich Maria Remarque

Sie ist eine angenehme Reisebegleitung, diese Berliner Dichterin jüdischer Herkunft, schweigsam, und doch fühlt man sich von ihr verstanden. Diesen Sommer wäre sie, die in Chrzanów im ehemaligen Österreich-Ungarn, heute Polen, geboren wurde, 110 Jahre alt geworden. Gestorben ist sie 1975 in Zürich. Sie war in Berlin Teil der künstle­rischen Avantgarde, die sich dort im „Romanischen Café“ zu treffen pflegte.

Ihr „Novemberbrief“ fängt die Atmosphäre des nebelgrauen Ascona geradezu greifbar ein und ist gleichzeitig ein Mysterium. Bis er 2003 im großen Mascha-Kaléko-Lesebuch „Die paar leuchtenden Jahre“erschienen ist, war er ­lange vergriffen, und auch heute ist er in Ascona kaum aufzutreiben. Wer ihn vor Ort lesen will, sollte ihn mitbringen oder kann lange danach suchen. Diese Suche nach dem poetischen Brief lohnt jedoch.

Wann der „Novemberbrief“ verfasst wurde, ist unklar

Es ist, als richtete er sich nur an diese eine Leserin, an diesem Tag im November in Ascona. Die einzige Buchhandlung im Ort hat geschlossen, das ­literarische Antiquariat ebenfalls. Ein schwarz-weißer Kater begrüßt Buchliebhaber schnurrend vor verschlossener Ladentür. Die Bibliothek, die Kaléko in ihrem Brief als „rührendes Etablissement“ bezeichnet, das „neuerdings fast ‚up to date‘ geworden ist“, öffnet erst um 15.30 Uhr. Doch auch hier kennt man weder den „Novemberbrief aus Ascona“ noch die Dichterin.

Die Bibliothekarin lädt jedoch zu einer Lesung Ende November aus dem Briefwechsel von Alfred Andersch und Max Frisch ein, zu dem Anderschs Tochter anreisen wird. Wann Kaléko ihren „Novemberbrief“ verfasste, ist unklar. Der einzige Hinweis im Brief, in dem sie ­Bezug auf ihren Schriftstellerkollegen Erich Maria Remarque und dessen Wahlheimat Ascona nimmt, deutet auf die späten 50er-Jahre hin.

Glockengeläut dringt durch Nebelfetzen

Altbauten im Zentrum von Ascona.
Altbauten im Zentrum von Ascona. © picture alliance / prisma | Silvan Mats

„Und wieder, und noch einmal – die Glocken. Ohrenbetäubend, so nah, so laut,“ schrieb Kaléko aus Ascona. „Denn die Kirchen sind hier sozusagen im ­Dorfe geblieben, und wohin du auch fliehst, du entgehst ihnen nicht. Aus tiefstem Schlaf rufen sie dich, zur Messe, um Angelus. Sie gehören zu Ascona, wie der eigenartige Duft zu diesem Orte gehört.“ Auch an diesem Novembertag dringt das Glockengeläut durch die Nebelfetzen. Die Kirche Chiesa di San Pietro wirkt mit ihrer hellgelben Außen­fassade einladend.

Innen gibt es neben der heiligen Maria mit Jesuskind und dem heiligen Antonius eine Statue der heiligen Sabina. Am Marienaltar brennen Kerzen für die Seelen der Lebenden und Toten. Ein Handwerker-Duo – es könnten Vater und Sohn sein – ist mit der Restaurierung des Kircheninneren beschäftigt. Der ältere Herr sagt bedauernd auf Italienisch, keine Zeit für einen Plausch zu haben. „Ich würde mich gern länger mit Ihnen unterhalten, aber unsere Arbeit ist erst ganz am Anfang. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Ascona – im ganzen Kanton Tessin“, sagt er freundlich lächelnd.

„Vielerlei Düfte schaffen die typische Ascona-Mischung“

„Tag um Tag, zur Stunde der Dämmerung, beginnt Ascona zu duften. Wohltuend-anheimelnd ist dieser Geruch, an Urväterisches gemahnend. Wonach riecht es? Nach würzigem Waldholz, das jetzt im Kaminfeuer Funken sprüht, nach den violettblauen Ticinotrauben im Weinkorb, nach Kamillenkränzen und Minzenkraut. Nach Abendnebel und herbem Krautrauch von den Feldern.

Und selbstverständlich nach dem Küchenaroma, das aus den Gassen dringt: Tomate, Thymian und brutzelndes Olivenöl, zur Stunde der abendlichen Pasta. Und dazu kommt nun der winterliche Duft der ‚Castagnate‘, dem festlichen Kastanienrösten, das die Freunde am offenen Kaminfeuer versammelt, zum gemeinsamen Maronischmaus. Vielerlei Düfte schaffen die typische Ascona-Mischung“, berichtete die Briefeschreiberin. Bei Vermicelles, dem Kastanienmus, das im Restaurant „Il Pontile“ an der Seepromenade serviert wird, steigt diese Herbst-in-Ascona-Duftmischung in die Nase.

„Dämmerstunden, aus Schwermut gesponnen“

Nach wie vor wird der „abendliche Gang durchs Dorf … zum tröstlichen Ritual: Zunächst in die Posta hinunter, und man verlässt das pastellrosa Tessinhaus herrlich beladen, mit der Posternte des Tages unterm Arm und den Zeitungen von daheim“. Das pastellrosa Haus ist vor circa acht Jahren einem modernen Flachdachgebäude gewichen.

Doch der abendliche Lesestoff, der aus der „Tessiner Zeitung“ und der „Neuen Zürcher Zeitung“ besteht, rettet auch für heutige Schriftsteller und Journalisten die kalten Herbstabende. „Bläulich grau hängt er mit einem Mal über dem Lago Maggiore“, der Herbstabend im November, heute wie damals. Kaléko spendet Verständnis mit ihrem Brief, wie eine gute Freundin, in den „Dämmerstunden, aus Schwermut gesponnen, mit etwas Heimweh durchwirkt für den einsamen Fremden“.

Wie eine alte Dame mit schlohweißem Haar und einem silbergrauen, gehäkelten Dreieckstuch breiten sich die Berge mit dem frischen Schnee in den Hochlagen und zarten Nebelschwaden vor dem Auge des Betrachters aus. „Dort, die Bucht trägt seit gestern den sanften Novemberschleier um die Schultern, und die Berge im Nebel schweigen. Den See hast du nun ganz für dich, und siehe da, er ist ein herrlicher See, sobald man ihn von parkenden Autos befreit.“

Bekannt ist und war Ascona für seine Künstlerkolonie

Möwen sitzen am Bootsableger auf den Buhnen wie schneeweiße Raben. In der Via Borgo hängen Straßenarbeiter bereits die Weihnachtsbeleuchtung auf, um ein bisschen Licht in die Dunkelheit zu bringen. Kaléko zitierte in ihrem Brief den Pazifisten Erich Maria Remarque, der lange in Ronco sopra Ascona im Exil lebte, mit den Worten: „Wie vielen bin ich schon begegnet, auf der Piazza, frisch angekommen mit dem Vorsatz, in Ascona ‚das Werk‘ zu schaffen, zu vollenden!

Bald aber sah man sie gemächlich mit den anderen im Sonnenschein vor dem Albergo sitzen und fleißig auf den Lago Maggiore blicken. Tag vor Tag hockten sie da vor ihrem Glase, und es dauerte nicht lange, da hatten auch sie jenen ‚leeren hellblauen Blick‘, den Sie an manchem Bohemien hier bemerkt haben werden!“ Bekannt ist und war Ascona vor allem für die „pittoreske Künstlerkolonie“ Monte Verità, die Vegetarier und Alternative auf den Berg lockte.

Die Gastfreundschaft der Einwohner erinnert ans nahe gelegene Italien

Mascha Kaléko hat es während ihres Aufenthalts bei der „Jagd auf Antiquitäten“ in die umliegenden Bergdörfer verschlagen, „hoch über Ascona, auf abenteuerlichen, verschluchteten Wegen, die nur der verwegene Autofahrer aufsucht“. In welche Dörfer genau, verriet sie nicht, aber bei der Fahrt durchs Verzascatal entlang des reißenden Bergbachs lässt sich erahnen, dass es dieses oder ein ähnliches Tal gewesen sein muss.

Die Gastfreundschaft der Einwohner Asconas erinnert an Italien. „Für ganz Unternehmungslustige“, schrieb auch Kaléko in ihrem „Novemberbrief“, „bleibt noch immer der Ausflug über die italienische Nahebei-Grenze, der Besuch beim Handschuhmacher in Orta, bei dem die Duchess of Windsor arbeiten lässt.“ Ob sie das heute noch tut, wer weiß das schon.