Am 21. Dezember dieses Jahres läuft der Mayakalender aus. In der Nacht zuvor werden in den Kultstätten Mexikos aufwendige Feste gefeiert.

Selbst wenn man 1000 Bilder gesehen hat, verschlägt es einem den Atem, wenn man vor der großen Pyramide in Chichén Itzá steht. Zunächst ist es die schiere Schönheit, die berührt, der Wille zur strengen Form, der imponiert. Ein stärkerer Kontrast zur bunten, lauten, liebenswerten Schlampigkeit der modernen mexikanischen Städte lässt sich kaum vorstellen.

Ruft man sein angelesenes Wissen über die Maya ins Gedächtnis, verstärkt sich das Staunen nur. Da tritt eine Kultur ohne Metallwerkzeuge, ohne das Rad und ohne Zugtiere plötzlich in aller Vollkommenheit aus dem Dunkel ihrer bis dahin bäuerlichen Existenz, schafft in wenigen Jahrhunderten diese Wunderwerke und verlässt sie ebenso plötzlich, um fortan im Schatten dieser Zeugnisse früherer Größe so zu leben, als habe es dieses goldene Zeitalter nie gegeben. Aufstieg und Fall der Maya bleiben so rätselhaft wie die Einzelheiten ihres Götterkults.

Die Maya erlebten Zeit nicht linear, sondern als Abfolge zyklisch wiederkehrender Katastrophen, wie die stets wiederholte Verschlingung des Tages durch die Nacht. Ihr heiliger Kalender markierte Zyklen von 52 Jahren, und am Ende jedes Zyklus haben sie ihre Tempel größer und schöner überbaut. Doch diese Zyklen waren ihrerseits Teil größerer Zyklen. Der größte Zyklus - der berühmte "Long Count" oder Lange Zählung - misst 13 "Baktun" von 144 000 Tagen, gerechnet vom Tag der Erschaffung der Welt am 11. August im Jahr 3114 vor Christus. Er endet am 21. Dezember 2012. Dafür mag es banale Gründe geben: "Ich hatte keinen Platz mehr", sagt ein Maya-Steinmetz zum anderen in einer Karikatur des "New Yorker". Doch unzählige Filme, Bücher und Propheten sagen für diesen Tag je nach Einstellung und Geschäftsmodell das Ende der Zeiten oder den Anbruch einer schönen neuen Welt voraus, ein Zeitalter des Aquarius, mit Love, Peace and Understanding. Oder beides.

Für Mexiko und speziell für die Halbinsel Yucatán ist der Katastrophen- und New-Age-Tourismus ein Segen, weil in diesen Tagen so viele Gäste kommen wie selten zuvor. In der Nacht des 21. Dezember wird es in fast allen Maya-Stätten Licht-, Ton- und Tanzshows geben. Wer das Ende der Welt an Ort und Stelle erleben will, wird womöglich kaum noch ein freies Bett finden. "Wir wollen unseren Besuchern die Möglichkeit geben, von der Maya-Kultur zu lernen", sagt Lizzie Cole, die für die Tourismusbehörde der Riviera Maya arbeitet.

Die Riviera erstreckt sich von Cancún südwärts: Sandstrände, Palmen, türkisblaues Meer, das ganze Karibikprogramm. Man findet kleine Hotels an verträumten Orten, die sich als Ausgangsbasis zum Besuch der ehemaligen Maya-Hafenstadt Tulúm und einiger Maya-Stätten weiter im Landesinneren eignen, wie etwa Cobá und Chichén Itzá. Will man Stätten wie Mayapán oder die vielleicht schönste Anlage - Uxmál - besuchen, empfiehlt sich die Kolonialstadt Mérida als Ausgangspunkt. Jede Maya-Stadt hat ihren eigenen Charakter. Nicht nur, weil sie aus verschiedenen Epochen der Maya-Blütezeit stammen, die sich von etwa 200 bis 1000 nach Christus erstreckt, sondern auch, weil sie verschiedene Funktionen erfüllten - Hafen, Handelsplatz, Wohnstätte der Adeligen und Priester, Akademie oder reiner Kultort. In Tulúm kann man den Besuch der Anlagen mit einem Bad im Meer verbinden, Cobá erkundet man am besten mit einem vor Ort gemieteten Fahrrad.

Die Maya bauten in der Regel Stufenpyramiden mit einer komplexen Symbolik. Neun Regionen hat die Unterwelt, was sich oft in der Stufenanzahl der Pyramiden widerspiegelt. Darüber wölbt sich der Himmel mit 13 Regionen. "Die Maya-Kultur ist lebendig", hat Señora Cole gesagt. Also besuche ich im Städtchen Santa Elena Hernán, der gegen ein kleines Entgelt über sein Anwesen führt: eine Ansammlung kleiner Hütten mit Strohdach und geflochtenen, mit Lehm gepflasterten Wänden, die typische Behausung der Indios seit den Maya-Zeiten. Vor dem Hausaltar erläutert er die dort verehrten Götter: Jesus und die heilige Jungfrau von Guadeloupe, die vier Hauptgottheiten der Maya, Regengott Chaac, dazu die Cozules, bärtige Riesen, und vor allem die Aluxes, Zwergwesen, die wie ihre europäischen Cousins eigentlich gutartig sind, aber einen ordentlich piesacken, wenn man sie nicht respektiert. Nicht nur Hernán achtet darauf, ihnen nicht in die Quere zu kommen.

"Das waren bestimmt die Aluxes", sagt mein Fahrer, als ich ihm nach einer Übernachtung in Chichén Itzá von einem Albtraum erzähle. "Wahrscheinlich hast du etwas angefasst." In Cancún habe man eine Brücke gebaut, die sei viermal eingestürzt, bis man einen Maya-Schamanen konsultierte. Der stellte fest, dass die Brücke eine Wohnstätte der Aluxes zerstört habe, und schlug vor, ihnen ein neues Haus zu bauen. Seitdem hält die Brücke. Manche Fremdenführer erzählen von blutrünstigen Menschenopfern der Maya, andere betonen die Friedfertigkeit eines von den christlichen Eroberern verleumdeten Volks. Fortschrittsoptimisten werden die Überwindung des Blutopfers feiern, Kulturpessimisten den Untergang einer naturverbundenen Zivilisation beklagen. Was ist Wahrheit? Sie wechselt mit den wissenschaftlichen Moden. Zurzeit wird der Untergang der Maya-Hochkultur auf den Klimawandel zurückgeführt. Eine Dürreperiode habe die Maya gezwungen, die Städte aufzugeben und zur Selbstversorgerwirtschaft zurückzukehren. Früher machte man die Übervölkerung verantwortlich, davor die angebliche Dekadenz der Maya-Oberschicht.

Hernán hat hinterm Haus ein Motorrad stehen und sorgt mit dem mit Fremden verdienten Geld dafür, dass seine Kinder nicht mehr so leben müssen wie er. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Santa Elena ist in die USA ausgewandert, und die meisten Daheimgebliebenen leben von dem Geld, das die Migranten nach Hause schicken. Wer als Tourist glaubt, das Authentische zu erleben, sitzt einer naiv-romantischen Vorstellung auf. Die Hippies, die aus den USA und Europa dieses Jahr zur Feier des Weltenendes oder der neuen Ära anreisen, mögen zwar glauben, dass sie an den spirituellen Geheimnissen der Maya teilhaben, erleben jedoch nur sich selbst (und wahrscheinlich die Wirkung diverser Drogen, von Cerveza bis Peyotl). Um ein letztes Mal Lizzie Cole zu zitieren: "2012 stehen wir nicht vor dem Ende der Welt, sondern am Vorabend einer neuen Ära der Selbsterkenntnis, von der in vielen Kulturen die Rede ist. Sollte aber die Welt doch zu Ende gehen, können wir eh nichts dagegen tun - also sollten wir dieses herrliche Fleckchen Erde genießen."