Generationen von Schülern haben in Etagenbetten übernachtet und Hagebuttentee getrunken. Jetzt wird die Jugendherberge 100 Jahre alt. Wie riecht es, wie fühlt es sich an, wenn man wieder dort einzieht? Ein Erfahrungsbericht von Axel Tiedemann

Wie war das noch? "Decke falten, unten gerade halten ..." Da gab es doch einmal diesen Spruch, um Bett und Bettdecke ordentlich zu richten. Lange ist es her. Sind es wirklich schon drei Jahrzehnte? Jetzt sind wir wieder hier in der Jugendherberge Holzminden und kämpfen wieder mit den Etagenbetten. Kaum etwas scheint sich hier direkt an der Weser verändert zu haben. Zumindest auf ersten Blick.

Noch immer steht dort der Turm, in dem früher immer die Mädchen schlafen mussten. Generationen von Hamburger Schülern waren schon hier, wie das Gästebuch ausweist. Generationen von Hamburger Jungs versuchten, nachts trotz abgeschlossener Verbindungstür zum Turm zu gelangen. Immer auf der Hut vor Lehrern und Herbergseltern. Ein Spiel, das so alt sein dürfte wie die deutschen Jugendherbergen selbst.

Vor genau 100 Jahren wurde die Idee geboren, unter Blitz und Donner gewissermaßen: Es war im Sommer 1909, als der Lehrer Richard Schirrmann mit seinen Schülern von Altena nach Aachen wandern wollte und von einem heftigen Gewitter überrascht wurde. Bauern verwehrten der Gruppe Unterschlupf, erst in einer kleinen Dorfschule konnten die durchnässten Jungen und Mädchen übernachten. Für den Lehrer Anlass, über eine Idee nachzudenken, die schließlich zur Gründung des deutschen Jugendherbergswerks führte, dem immer auch ein reformpädagogischer Ansatz zugrunde liegen sollte. Im Abstand von Tagesmärschen überzog schon bald ein Netz solcher Übernachtungs-Häuser das Land; Jungen und Mädchen sollten so die Natur erleben und ihren Gemeinschaftssinn stärken können.

In diesem Jahr feiert der Verband Deutscher Jugendherbergen sein Jubiläum mit zahlreichen Festen. Eine Tradition übrigens, die viele Länder aus Deutschland übernommen haben. Weltweit gibt es heute 4000 Jugendherbergen, allein in Deutschland sind es noch immer rund 550.

Doch was hat sich verändert in diesen hundert Jahren? Was ist geblieben, seit wir selbst in den 70er- und 80er-Jahren auf Klassenreise in Jugendherbergen übernachtet haben? Erinnerungen an Muckefuck, diesen merkwürdigen Kaffee-Ersatz, und seinen Geruch werden wach. Und an Hagebuttentee natürlich. In großen Blechkannen ausgeschenkt, in denen allein die Patina im Inneren für den typischen Geschmack zu sorgen schien.

War es 1976? Oder 1979? "Weiß ich auch nicht mehr", sagte ein alter Kumpel, der vor unserer Zeitreise ein wenig Erinnerungshilfe geben sollte und heute ein ehrbarer Steuerberater ist: "Ich erinnere mich nur ans ewige Wandern, an viele Hügel und an diesen Turm, aus dem wir einmal eine Unterhose abgeseilt haben - das fanden wir damals wohl witzig."

Nun also wieder Holzminden, wieder der Turm. Ruhig ist es auf dem Hof. Noch immer stehen hier zwei Tischtennisplatten. Hinter der schweren Eingangstür gibt es noch einen kleinen Warteraum. Und auch die kioskähnliche Rollladen-Öffnung zum Büro der Herbergsleitung scheint unverändert.. Ein Schild weist auf einen Getränkeautomaten im Keller hin. Ein anderes darauf, dass man einen Jugendherbergsausweis braucht, wenn man hier übernachten will. Im Schaukasten liegen Tischtennisschläger und ein paar Prospekte aus.

Es riecht nach frisch gewischtem Linoleumboden, nicht anders als damals. Irgendwo oben sind Kinderstimmen zu hören. Hin und wieder knallt eine Tür, dann schwillt die Lautstärke an. Getrappel auf dem Flur, 20, 25 Jugendliche, so um die 15, 16 Jahre alt, stürmen die Treppe zum Speiseraum herunter.

Und da ist dann schon die erste Überraschung: Ein nett und reichlich angerichtetes Büfett wartet auf die Schüler, die sich dort selbst bedienen können wie in einem Hotel. Mehr All-inclusive-Versorgung als die Kasernen-Verpflegung, die wir kannten. Statt Muckefuck gibt es Cappuccino. Und aus der Kanne mit Hagebuttentee ist ein Tee-Beutel-Angebot mit vielen verschiedenen Sorten geworden.

"Die Zeiten mit Spül- und Servierdiensten von Schülern sind lange vorbei", sagt Heike Sander-Nisius. "Schon weil die Hygienevorschriften strenger geworden sind." Die 38-Jährige ist hier Chefin, "Herbergsmutter", wie sie selbst sagt. Und das in vierter Generation. Ihre Urgroßmutter hatte in einer Jugendherberge im Harz gearbeitet, die Großeltern hatten Anfang der 50er-Jahre die Leitung in Holzminden übernommen. Das 123-Betten-Haus mit seinem Turm war einer der ersten Jugendherbergs-Neubauten nach dem Krieg. Später übernahmen die Eltern das Haus. Heute steht Heike Sander-Nisius in Kochkleidung in der alten Küche. "Jetzt müssen wir viel mehr berücksichtigen", sagt sie, "die ganzen Allergien, das Schweinefleischverbot für Muslime - daran dachte früher doch niemand."

Herbergsmutter ist allerdings immer noch ein Job mit vielen Facetten: "Man muss Handwerker, Koch, Betriebswirt und Fremdsprachenkorrespondent zugleich sein", sagt sie. Morgens um sieben beginnt ihr Tag, um 22 Uhr ist Ruhe - da hat sich nicht viel geändert. Gemeinsam mit zwei Zivildienstleistenden und den beiden Hauswirtschafterinnen bereitet sie morgens das Frühstücksbüfett vor, kümmert sich später um die Buchhaltung und arbeitet Freizeit-Programme aus. "Früher kamen die Klassen zum Wandern, heute buchen Lehrer Fun-Pakete", sagt sie. "Erlebnispädagogische Freizeiten" heißt es jetzt: Kanufahren, Klettern oder gemeinsames Floßbauen. "Man muss den Kindern heute etwas anbieten, damit sie überhaupt wieder gemeinsam Natur erfahren können", sagt Winfried Kötter-Stieglitz, 54-jähriger Rektor einer Förderschule, der hier mit seinen Schülern untergekommen ist.

Herbergsmutter Sander-Nisius verabschiedet sich kurz vom Gespräch, sie muss hoch ins Zimmer sieben. Schüler haben dort Tische und Schränke verrückt, ein Waschbecken ist dabei zu Bruch gegangen. Dann heult plötzlich der Feuermelder auf. "Fehlalarm, da wurde nur zu heiß geduscht", sagt Sander-Nisius, nachdem sie die Treppen wieder runtergehetzt ist. Wenig später klingelt es an ihrem Kiosk. Zwei junge Männer aus Bremen in Radlerkluft stehen davor, zücken ihre Herbergsausweise und bekommen die gebügelte Bettwäsche ausgehändigt. Ein junges Mädchen möchte seine Hautcreme aus dem Kühlschrank haben. Der Lehrer hat noch eine Frage, und oben im Flur ist Geschrei und Lachen zu hören. Längst sind Mädchen und Jungen nicht mehr nach Etagen getrennt. Sander-Nisius bringt die Klassen gemeinsam auf einem Flur in Acht- oder Sechsbettzimmern unter.

"Früher war das ganz anders", erzählt ihre Mutter Ulrike Sander, die selbst hier gut 40 Jahre lang Herbergsmutter war. "Damals durfte noch nicht einmal mein Mann die Mädchenetage betreten, so streng waren die Zeiten." Sie hat noch die Lehrergeneration erlebt, die im Krieg gewesen war und ihre Schüler mit strenger Hand kommandierte. Dann kamen die 60er- und 70er-Jahre und damit die antiautoritäre Erziehung. "Wenn Schüler einen Feuerlöscher zerstört hatten, hieß es nur, sie müssten ihre Aggressionen ausleben dürfen." In den 80er-Jahren schließlich kam der Alkohol hinzu, Partys bis nachts um vier auf den Zimmern. Der Ton wurde manchmal rauer, die Familien zerrissener, glaubt sie. "Doch unterm Strich waren die meisten Schüler immer sehr lieb ..."

Aber es sind längst nicht mehr nur Schulklassen oder einsame Wanderer, die hier übernachten. Tagungsgruppen oder Radwanderer quartieren sich regelmäßig ein. Und auch Familien, die den Jugendherbergen zu einem neuen Aufschwung verhalfen. Zwar muss der Verband immer wieder kleinere Häuser schließen, rund 100 allein in den vergangenen 15 Jahren. Doch gleichzeitig gibt es bei den Mitgliederzahlen seit 1989 wieder einen positiven Trend, heißt es beim deutschen Jugendherbergswerk. Inzwischen werden sogar Pauschalreisen oder Happy-Weekend-Pakete angeboten. Allein in Deutschland gibt es zurzeit rund zwei Millionen Mitglieder, mehr als doppelt so viele wie noch 1990. "Wir konnten den demografischen Wandel mit neuen Angeboten auffangen", sagt dazu Verbandssprecher Knut Dinter. Nur noch 40 Prozent der Übernachtungsgäste sind demnach Schulklassen. 18 Prozent gelten als Freizeitgruppen, wie etwa Radfahrer. 12 Prozent sind Seminar-Teilnehmer und immerhin 16 Prozent Familien.

In Holzminden gibt es für Eltern und Kinder und für die Radwanderer, die in dem Haus am Weserwanderweg besonders oft einkehren, kleinere Zimmer im oberen Geschoss, wo wir auch einquartiert worden sind. Dafür wurde der große Jungenschlafsaal irgendwann einmal aufgeteilt. Recht komfortabel ist es hier. Zum Duschen oder zur Toilette muss man nicht mehr über den Flur und kalte Fliesen schleichen. Dusche und WC liegen nun wie in einer Pension direkt am Zimmer.

Nur eines hat sich auch in 100 Jahren nicht geändert. Die Frage, wer unten und wer oben im Etagenbett schlafen darf. Und natürlich der Abschlusskampf mit den Decken. Wie war das noch, wenn man abreist und das Bett wieder in den Ursprungszustand bringen muss? "Decke falten, unten gerade halten ..."