Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leser Hermann Eigebrecht aus Ahrensburg kennt nach den Schrecken des Krieges keine Angst mehr.

Wir Jugendlichen sollten vor den Bombenangriffen der englischen und amerikanischen Flugzeuge geschützt werden. So wurde ich, damals gerade einmal zwölf Jahre alt, zusammen mit allen Klassenkameraden und mit unseren Lehrern aus unserer Heimat Stettin in beschlagnahmte Hotels nach Binz auf Rügen und später nach Ahlbeck auf Usedom geschickt. KLV nannte sich das damals: Kinderlandverschickung.

Im März 1945, als die sowjetischen Truppen bedrohlich näher rückten, wurden wir weiter nach Westen verlegt - nach Neukloster in Mecklenburg. Hier, kurz vor dem Einmarsch der russischen Truppen, geschah vor unserer Unterkunft etwas Unglaubliches. Eine Menschenkette schaffte Wein- und Schnapsflaschen aus dem Keller des Restaurants auf die Straße und zerschlug die Flaschen am Bordstein. Die Luft war vom abfließenden Alkoholrinnsal geschwängert. Ziemlich schnell erfuhr ich den Grund dieser eigenwilligen Aktion: Man wollte verhindern, dass russische Soldaten an den Alkohol gelangen konnten. Denn danach, so die Erfahrung der Menschen, folgten oft Ausschreitungen und Vergewaltigungen der Mädchen und Frauen.

Wir Jugendliche - mittlerweile 13- bis 15-Jährige - sollten zusätzlich aus Baumstämmen Panzersperren an den Eingangsstraßen errichten. Ein Kraftakt. Um uns davor zu bewahren, verteilten uns unsere drei Lehrer spontan auf umliegende Dörfer und quartierten uns bei Bauern ein. Dann, zwei Tage später, hörte ich plötzlich auf dem Hof bedrohliches Hufgetrappel. Etwa ein Dutzend Kosaken auf ihren Pferden suchten die Gegend nach kampfbereiten Soldaten ab. Am anderen Tag sah ich sie dann, die russischen Panzer. Die Ketten der Panzerkolonne rasselten laut auf der Landstraße in zirka 300 Meter Entfernung von mir. In der warmen Maiensonne erkannte ich deutlich die kahl geschorenen Köpfe der auf den Panzern hockenden Soldaten. Es waren Eindrücke, die mich erschauern ließen und seitdem in mir verankert sind. Selbst heute ist noch alles so klar vor meinen Augen, als hätte sich das alles erst gestern ereignet.

Eines Nachts wurde ich von zwei russischen Soldaten im Schlaf überrascht. Getäuscht durch meine stark lockigen Haare, glaubten sie, ich sei ein Mädchen und wollten mich vergewaltigen. Ein innerer Schrei. Ich war damals 14 Jahre alt und dachte, es gäbe kein Weiterleben mehr. Der Zusammenbruch Deutschlands. Der Feind in der Heimat. Was soll nun noch folgen?

Die ganze Zeit auf mich allein gestellt - getrennt von meiner Familie - wollte ich nun unbedingt zu meiner Mutter. Sie war nach Ahrensburg geflohen. Vater war bei der Kriegsmarine im Einsatz. Durch eine Briefnachricht wusste ich, dass meine Mutter zusammen mit meinen beiden Geschwistern in Ahrensburg bei Verwandten untergekommen war.

Endlich war es soweit. Bestückt mit ganz vielen mündlichen Informationen - ein Handy gab es damals natürlich noch nicht - machte ich mich auf die lange, ungewisse Reise. Über diverse Umwege und über alle möglichen Grenzübergänge näherte ich mich langsam meinem Ziel. Ich ging zu Fuß. Ich trampte. Der Weg führte mich über Berlin, Plauen und Hof - durch drei Besatzungszonen. Mitte Juni 1945 erreichte ich Ahrensburg.

Als meine Mutter mich sah, weinte sie vor Glück. Angst kenne ich seit dieser Zeit nicht mehr!