Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leserin Konstanze Körner kehrt 1984 aus dem Ungarnurlaub nicht wieder in die DDR zurück. Sie wollte studieren.

Ein ablehnender Bescheid im Juni 1984 für das Studium der Fachrichtung Polytechnik an der Hochschule Karl Liebknecht zu Potsdam ließ keine Alternative mehr zu. Ich musste raus aus diesem Staat. Kritische Äußerungen zu meiner Persönlichkeitsentwicklung in meiner Abschlussbeurteilung hielten laut Hochschule eine Studienzulassung für nicht gerechtfertigt.

Im Juli 1984 beim Abiball verabschiedete ich mich von meinem besten Freund und erwähnte kurz, dass wir uns wahrscheinlich lange nicht sehen werden. Er schaute mich verdutzt an, und irgendwie war klar, dass auch er die Flucht aus der DDR plante. Beide hatten wir in den drei Jahren, in denen wir eine Berufsausbildung mit Abitur absolvierten, keinen leichten Stand bei Lehrern und Genossen. Staatsbürgerkunde interessierte uns wenig. Zu den angeordneten Demonstrationen gingen wir widerwillig oder gar nicht. Wir liebten Musik, vor allem Reggae, und wir wollten unbedingt mal nach Jamaika. Wir wollten studieren, uns an unseren Leistungen messen lassen, die Welt bereisen, Radiosender hören, die frei von Agitation und sozialistischer Propaganda waren, wir wollten nicht mehr als Jugendliche im anderen Teil Deutschlands - aber auch nicht weniger.

Wir trafen uns im August 1984 in Ungarn und beschlossen, über Jugoslawien und Österreich in die Bundesrepublik zu gelangen. Einen Plan hatten wir nicht - aber wir waren voller Abenteuerlust und mutig. So trampten wir in die Nähe der jugoslawischen Grenze, um den Rest bei Nacht zu laufen. Grenzer spürten uns auf. Sie nahmen uns die Papiere weg und begleiteten uns an den Balaton zurück. Von dort starteten wir wieder Richtung Grenze - aber wir trampten diesmal nicht so nah heran. Nachdem wir drei Nächte durch Maisfelder marschiert waren und uns drei Tage darin versteckten, erreichten wir ausgehungert und mit höllischem Durst den Grenzfluss Drau. Dort standen Wachtürme, die glücklicherweise nicht besetzt waren. Wir warteten bis zum Abend und schwammen mit unserem Hab und Gut an das andere Ufer. Der Fluss hatte eine starke Strömung, die unsere Taschen mit sich riss, so dass wir nur mit dem, was wir am Körper trugen, ankamen - dies aber unversehrt!

Nach einer schrecklich kalten und nassen Nacht liefen wir Richtung Ortschaft. Wir hatten es geschafft. Eine Familie gab uns Essen und Trinken und zeigte uns den Weg zur Hauptstraße, um weiter nach Belgrad zu trampen. Nach einer abenteuerlichen Reise mit zwei trinkfesten Truckern erreichten wir schließlich die Botschaft. Nachdem wir einen Passersatz ausgehändigt bekamen, ging es mit dem Zug über Österreich nach München. Unglaublich, wir waren im Westen! Ich fühlte mich frei. Der schwerste Teil aber sollte noch kommen. Ich musste meiner Familie sagen, dass ich nicht mehr in die DDR zurückkomme. Niemand wusste von meinem Vorhaben. Zum Glück übte meine Mutter keinen Druck auf mich aus, um mich zur Rückkehr zu bewegen, auch wenn sie Repressalien befürchtete. Sie war Lehrerin und hatte vor allem den Auftrag, die Schüler zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Nun, bei ihrer Tochter hatte sie das nicht geschafft - aber man ließ sie nach etlichen nächtlichen Hausbesuchen und Wohnungsdurchsuchungen in Ruhe.

1989 dann die politische Wende. Endlich wieder nach Potsdam fahren, Weihnachten mit der Familie verbringen! Ich habe meinen Traumberuf gelernt, habe doch noch studiert und bin sehr viel gereist.

Nun lebe ich in Lütjensee, ein wunderbarer Ort, um zu sein!