Leserin Renate Brombach über den Beginn einer Freundschaft

Es ist nicht mein Wendejahr, sondern das Wendejahr meiner Eltern und das einer Neustädter Familie. Unsere Geschichte ereignete sich Anfang Mai 1945, ein oder zwei Tage, nachdem die "Cap Arcona" am 3. Mai 1945 von britischen Fliegern in der Neustädter Bucht versenkt worden war. Wir - mein Vater, meine Mutter, meine anderthalbjährige Schwester und ich als Dreijährige - sind nach der Flucht aus Stargard/Hinterpommern in Neustadt in Holstein gelandet. An diesem Tage wurde uns eine Unterkunft im Kremper Weg zugewiesen, der damaligen Villenstrasse von Neustadt. Es handelte sich um das sogenannte Gartenzimmer im Souterrain der Villa.

Auf dem Weg dorthin sind uns Überlebende der "Cap Arcona" begegnet - Strafgefangene aus den Konzentrationslagern in ihren Sträflingsanzügen. Mein Vater sagte damals: "Die stehen total unter Schock und haben nicht begriffen, dass sie endlich frei sind."

Bei unserer Ankunft im Kremper Weg herrschte große Aufregung. Es hieß, die Engländer würden die gesamte Straße besetzen. Bis 14 Uhr müssten die Bewohner ihre Häuser verlassen. Alles was sie bis dahin aus dem Haus schaffen könnten, dürften sie mitnehmen. Teilweise wurden Betten und Hausrat aus den Fenstern geworfen. Einige Offiziere besichtigten die Häuser. Wir gingen in das uns zugewiesene Gartenzimmer. Mein Vater sagte zu meiner Mutter: "Leg eine Decke über das Bett, dann sieht es schon etwas wohnlich aus."

In diesem Moment kam auch ein englischer Offizier in das Haus, in dem wir einquartiert waren. Aus irgendeinem Grunde begann er seine Besichtigung im Gartenzimmer. Hier saßen wir nun: Mein Vater mit mir auf seinem Schoß, meine Mutter und meine Schwester im Kinderwagen. Der Offizier fragte, wer wir seien. Mein Vater berichtete kurz von unserer Flucht. Da stellte sich der Offizier an den Kinderwagen und betrachtete meine Schwester eine ziemlich lange Zeit. Dann verließ er wortlos das Zimmer, ging zu den Hausbesitzern und sagte: "Dieses Haus wird nicht geräumt." Es war das einzige in der Straße, das nicht von den Engländern besetzt wurde.

Meine Eltern haben den naheliegenden Schluss gezogen, dass dieser englische Offizier zu Hause auch ein kleines Baby hatte und dass er es einfach nicht übers Herz brachte, uns mit dem Kleinkind nach unserer Flucht schon wieder auf die Straße zu setzen.

Die Hausbesitzer waren nun natürlich überglücklich, wussten aber auch, dass es nicht ihr Verdienst war, dass sie bleiben konnten. Über unsere Einquartierung waren sie vorher natürlich alles andere als erfreut gewesen und hatten uns das sehr spüren lassen.

Doch von nun an entwickelte sich unser Leben in diesem Haus so, dass ich, die dreijährige Renate, alles durfte. Ich habe die gemeinsam genutzte Küche beim "Abwaschen-Spielen" total unter Wasser gesetzt. Dem Ereignis am Tag unserer Einquartierung verdanken wir es, dass sich zwischen meinen Eltern und den Hausbesitzern eine zaghafte Freundschaft entwickelte. Von 1947 an wohnten wir in Hannover und haben von da an diese Leute sehr oft besucht. Das Haus hatte einen sehr großen Garten. Wir haben dort wunderbare Stunden verbracht. Insbesondere für uns Kinder waren diese Besuche eine besondere Freude.