Immer mehr Senioren zieht es als Gasthörer an die Universitäten. Sie hören Vorlesungen und halten Referate, schreiben aber keine Klausuren.

Der Morgen hängt grau über den Backsteingebäuden der Leuphana Universität in Lüneburg. Nur vereinzelt eilen Studenten über den Campus. Voll und laut sind zu dieser Zeit nur die Flure vor den Hörsälen und das Café im Gebäude 9. In dem Pulk von halbwachen 20-Jährigen fällt Friedrich Heselschwerdt durch zweierlei auf: Sein Haar ist schon ergraut, und er ist trotz der frühen Stunde schon hellwach. Der 60 Jahre alte Unternehmensberater lehnt seine mit Zetteln gefüllte Ledermappe an den Tisch und nimmt einen Schluck aus dem Kaffeebecher. "Ich komme gerade aus einem Seminar über Aristoteles", sagt er lächelnd.

Seit knapp anderthalb Jahren besucht Friedrich Heselschwerdt pro Woche zwei Lehrveranstaltungen des "Offenen Hörsaals" der Leuphana Universität. "Ich habe mir auch die Angebote für Gasthörer in Bremen und Hamburg angesehen, am meisten überzeugt hat mich aber Lüneburg." Für knapp 100 Euro pro Semester wird er zum Gasthörer mit einem eigenen Ausweis und Bibliothekskarte. Nur Klausuren schreiben darf oder besser gesagt muss er nicht. "Ich habe mir schon Ethik, Psychologie und Philosophie angehört. Mein Highlight war ohne Frage die Vorlesung von Richard David Precht."

Der Starphilosoph hat eine Gastprofessur in Lüneburg und ist inzwischen ein echter Publikumsmagnet. Auch Sibylle Bahrmann war Gast in seiner Vorlesung. "Die Veranstaltung war einfach super", sagt die 59-Jährige strahlend. Außer in Philosophie besucht die Landwirtin noch Kurse in Betriebswirtschaft und Evolutionsbiologie. Für Bahrmann ist es die zweite akademische Karriere. "Ich habe Agrarwissenschaften in Göttingen, Bonn und Paris studiert", sagt sie. "In einem Buchladen bin ich über das Programmheft gestolpert und habe mich einfach mal angemeldet." Sechs Wochenstunden verbringt die Uelzenerin nun an der Leuphana, neben dem Beruf versteht sich. Auch Friedrich Heselschwerdt gehört zu den rund 33 Prozent der Gasthörer in Lüneburg, die noch berufstätig sind. Trotzdem nimmt er sich jeden Tag etwas Zeit für die Wissenschaft. "Die Seminare bereite ich schon gründlich vor, und bald muss ich sogar ein Referat halten. Dafür investiere ich dann schon ein ganzes Wochenende. Immerhin will ich ja nicht der Opa sein, der ahnungslos vorn steht", sagt der Regesbosteler.

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Referate und Seminare sind die beste Möglichkeit, mit jungen Studenten, die häufig die eigenen Kinder sein könnten, ins Gespräch zu kommen. Dabei die Weisheit des Alters zu demonstrieren, liegt Friedrich Heselschwerdt jedoch fern. "Man spricht mal zwei, drei Sätze vor dem Seminar, und an der Diskussion beteilige ich mich auch. Nichts liegt mir aber ferner, als mich irgendwie aufzudrängen." Ähnlich sieht das auch Sybille Bahrmann: "In der Philosophie ist der Austausch zwischen den Gasthörern und den Studenten sogar sehr locker, bei meiner Biologievorlesung gibt es dagegen kaum Gespräche. Als schlimm empfinde ich das nicht, schließlich ist es nicht meine Intention, unbedingt mit jungen Leute in Kontakt zu treten."

Vielmehr sind es das Interesse an Wissenschaft und die Neugier, die beide Gasthörer antreiben. Für Bahrmann liegt darin auch der Unterschied zu ihrem ersten Studium und dem Besuch der Universität heute. "Früher habe ich natürlich Vorlesungen geschwänzt und ein wildes Studentenleben gelebt, auch völlig zu Recht. Heute habe ich gemerkt, dass Lernen vor allem ein Privileg ist und Freude macht." Mit den Studenten von heute tauschen möchte allerdings keiner der beiden. "Die Vorlesung nachzuarbeiten und die Texte zu lesen reicht mir schon. Nachher darüber eine Klausur zu schreiben, davor habe ich großen Respekt", sagt Friedrich Heselschwerdt und wirft einen Blick zu einer der zahlreichen Lerngruppen im Café. Auch Sybille Bahrmann schätzt die Zwanglosigkeit des interessierten Beobachters.

"Ich glaube, die Anforderungen sind heute noch viel größer als zu meiner Studentenzeit. Ich will nicht mehr zu einer Veranstaltung gezwungen werden, sondern meine Inhalte selbst aussuchen." Eine Aussage, die Friedrich Heselschwerdt mit heftigem Nicken unterstützt. "Ich habe große Lust darauf, die Ideen der Zukunft zu entdecken", sagt der 60-Jährige und bricht gleichzeitig eine Lanze für die Jugend. "Ich bin begeistert, wie eifrig sich hier die jungen Studenten mit einer besseren Welt beschäftigen. An der Universität werden Probleme noch fundiert und wertfrei analysiert. Fantasten gibt es im Hörsaal selten, dafür umso mehr echte Denker."

Diese Qualität der Auseinandersetzung mit den Dingen unterscheidet aus seiner Sicht den "Offenen Hörsaal" auch von anderen Bildungsangeboten. "Ich habe schon viele Seminare im normalen Bildungssektor besucht und immer wieder festgestellt, dass mir der Tiefgang fehlt. Meist wird nur etwas Altbekanntes aufgewärmt und mit einem neuen Logo versehen. Am Ende ärgert man sich dann über die teure Kursgebühr." Für Gasthörer an der Universität besteht diese Gefahr kaum. Die Kosten sind mit maximal 154 Euro pro Semester überschaubar. Zum Vergleich: Ein Seminar bei Richard David Brecht kostet für Wirtschaftsvertreter schnell 1000 Euro und mehr.

Friedrich Heselschwerdt: "Wer sich ein Update außerhalb von Tagesschau und Zeitung geben will, sollte sich in den Hörsaal setzen. Es ist einfach schön, mal wissenschaftlich darüber nachzudenken, was einen eigentlich im Alltag so antreibt."