Sich einschließen lassen: In einem Buxtehuder Geschäft wird dieser verwegene Traum wahr. Die Nachfrage nach diesem Erlebnis ist enorm.

Buxtehude. Zum Glück steht da dieser Holzschemel mitten im Raum, genau das, was Christiane Kollmann jetzt dringend braucht. Sie setzt sich, atmet erst mal durch. Realisiert langsam, was sie umgibt: Bücher. An der Wand gegenüber, an der Wand zur Linken, an der Wand hinter ihr. Im Schaufenster, das zur Rechten liegt, auch. Und auf einem Tisch in der Mitte des Raumes sowieso. Etwa 5000 verschiedene Titel. Hätten sie eine Stimme, dann würden sie jetzt wohl raunen und flüstern: "Willst du eine Nacht mit mir verbringen?"

Ja, sie will. Deshalb und aus keinem anderen Grund ist Christiane Kollmann ja hier, nachts im Buchladen. Ganz allein mit Millionen Seiten von Papier, auf die Milliarden von Buchstaben gedruckt sind. Das übt schon einen mächtig verführerischen Reiz aus auf die 47-Jährige. Es hat gleichwohl etwas Erdrückendes. "Oje", sagt sie und streicht sich eine ihrer vielen dunkelroten Locken aus dem Gesicht, "schaffe ich es überhaupt, zum Lesen zu kommen? Und falls ja: Wie lange?" Es ist ein Versuch.

Seit zwei Jahren sind derlei Versuche möglich. Ein kleiner Buchladen mitten in der Buxtehuder Altstadt, dem der treffende Name "Schwarz auf Weiß" gegeben worden ist, bietet den Raum dafür. Was genau genommen einem Zufall geschuldet ist. Inhaberin Tabea Marchand, 49, erinnert sich: "Irgendwann sagte eine Kundin: Ach, hier würde ich mich ja gern einmal einschließen lassen." Wirklich? Wirklich! Na dann... Bei einem Einmal ist es nicht geblieben. "Wir sind für dieses Jahr schon nahezu ausgebucht", sagt Marchand, die gerade die Terminplanung für 2013 macht. Längst kommen die Übernachtungsgäste aus dem gesamten Bundesgebiet. Dass es eine Chance wie diese gibt, spricht sich schnell herum.

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Christiane Kollmanns Versuch hat um 18 Uhr begonnen, zum Geschäftsschluss. Tabea Marchand hat zwischen der Sitzecke und dem Bord mit den Bilderbüchern das "Bett", eine Luftmatratze mit integriertem Staubsaugermotor, aufgeblasen, ein Spannbettlaken aufgezogen, eine Wolldecke draufgelegt, eine Stehlampe aufgestellt. Hat die Schaufenster mit Bettlaken verhängt, hat ihrer Kundin erklärt, wo die Ladenbeleuchtung ausgeschaltet wird und hat ihr schließlich den magischen Schlüssel - den mit dem schwarzen Käfer-Anhänger - ausgehändigt. Hat "Gute Nacht!" gewünscht und ist gegangen.

Nun ist Kollmann allein, schon seit gut einer Stunde. An der Eingangstür hängt ein Zettel mit den Worten "Hier wird heute übernachtet". Die 47-Jährige wird langsam aktiv. "Erst mal gucke ich dort, wo immer die Neuerscheinungen stehen", sagt sie. Greift nach Tess Gerritsens Krimi "Grabesstille", liest den Klappentext, dann ein paar Seiten. Dasselbe mit Dan Bursteins "Die Welt der Lisbeth Salander". Dann fällt ihr Blick auf ein anderes Buch. "Oh, eine Liebesgeschichte", murmelt sie und liest laut: "Ich werde auf dich warten. Von Jenny Rooney". Das gefällt ihr. "Liebesgeschichten liest man am besten, wenn man allein ist." Aber erst schaut sie sich Bildbände an. "Schatten über der Wildnis", Nick Brandts epische Vision von Afrika, und "Bäume und Wälder der Erde" von Dominique Seytre. "So etwas kauft man sich ja nicht."

Die Dämmerung bricht über der Ritterstraße herein, als Christiane Kollmann einfällt, dass sie noch etwas essen könnte. Sie holt sich ein Baguette aus dem Bistro schräg gegenüber. Südafrikanischen Rotwein hat sie sich selbst mitgebracht, in einer Flasche mit Schraubverschluss. Wer weiß schon, ob es in einer Buchhandlung einen Korkenzieher gibt?

Essen, trinken - das ist für Inhaberin Tabea Marchand kein Problem. "Bislang ist noch nie etwas passiert", sagt sie. Keine Fettflecken auf den Seiten, kein Rotwein auf dem Teppich. Sollte es doch mal ein Malheur geben, so vertraut sie darauf, dass ihre Übernachtungsgäste eine Haftpflichtversicherung haben. Die hat sie übrigens auch abgeschlossen, sollte jemand nachts im Laden zu Schaden kommen.

Das Baguette ist verputzt, Christiane Kollmann wäscht sich die Hände. Dann fällt ihr Blick auf die Bilderbücher. "Was gibt's denn da Neues?" Plötzlich ist das berufliche Interesse der Erzieherin geweckt, aber es währt in dieser Nacht nicht lange. Denn das Herz meldet sich umgehend zu Wort, und es pocht eindeutig auf die Liebesgeschichte. "Ich werde auf dich warten": Das Buch hat gewartet und die Balz um die Nacht mit Christiane Kollmann für sich entschieden.

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Andere Übernachtungsgäste hören nicht auf ihr Herz, sagt die Inhaberin, insbesondere nicht jene, die sie "die, mit den systematischen Genen" nennt. "Insbesondere vor Weihnachten haben einige die Zeit genutzt, um gezielt Wunschzettel abzuarbeiten", sagt Tabea Marchand. Wer am Morgen danach seinen Flirt mit nach Hause nehmen möchte, zieht das selbstklebende Preisetikett vom Rücken ab, pappt es auf den Verkaufstresen und legt das Geld abgezählt daneben. Für die Logis zahlen die Gäste im Voraus. 50 Euro kostet eine Übernachtung für die erste, 35 Euro für jede weitere Person. Auf der Matratze findet auch eine zweite Person Platz.

Oder eben ein schöner Liebesroman. Nur die Stehlampe wirft einen Lichtkegel auf Christiane Kollmanns Nachtlager. Es ist vollkommen still. Nur ganz gelegentlich hört sie letzte Fußgänger draußen vor den verhängten Schaufenstern. Es ist Mitternacht. Der 47-Jährigen fallen die Augen zu.

Als sie erwacht, ist es hell draußen. Die Uhr zeigt sieben. Schnell die Bücher weggeräumt und das Bett gemacht. Dann setzt sich Christiane Kollmann noch einmal auf den Holzschemel, auf dem ihr Abenteuer vor mehr als 13 Stunden begonnen hat. Was für eine Nacht!

Christine Kollanns BÜcher der Nacht:

Die Dokumentation

Die Welt der Lisbeth Salander von Dan Burstein und anderen, Taschenbuch, Heyne 2012, 623 Seiten, 9,99 Euro: Das Autoren-Team widmet sich den Hintergründen der Millenium-Trilogie von Stieg Larsson. "Sicherlich interessant", sagt Christiane Kollmann. Aber auf eine Dokumentation hat sie in dieser Nacht doch nicht so viel Lust.

Der Afrika-Bildband

Schatten über der Wildnis von Nick Brandt, gebunden, Knesebeck 2009, 132 Seiten, 60 Euro: 65 Monumentalbilder aus Afrika in Schwarz-Weiß: "Ein von der ersten bis zur letzten Seite wunderschönes Buch", sagt Christiane Kollmann. "Aber das ist nichts, das man sich mal eben so kaufen würde."

Die Liebesgeschichte

Ich werde auf dich warten von Jennie Rooney, Taschenbuch, Heyne 2012, 320 Seiten, 8,99 Euro: Das Erstlingswerk einer 1980 geborenen Rechtsanwältin aus London ist schon 2010 als gebundene Ausgabe erschienen. Eine Geschichte von Krieg und unerfüllter Liebe. Christiane Kollmanns Lieblingsbuch in dieser Nacht.

Das Baum-Buch

Bäume und Wälder der Erde von Dominique Seytre, gebunden, Delius Klasing 2010, 288 Seiten, 39,90 Euro: Der Bildband ist in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift GEO entstanden. Auf mehr als 200 Abbildungen ist Holz von allen Kontinenten und aus allen Blickwinkeln zu sehen. "Gefällt mir sehr gut", sagt Christiane Kollmann.

Der Krimi

Grabesstille von Tess Gerritsen, gebunden, Limes 2012, 448 Seiten, 19,99 Euro: Dieser Kriminalroman handelt von einem Amoklauf in einem chinesischen Restaurant, von mysteriösen Briefen und von einer toten Frau, die 19 Jahre nach dem Amoklauf gefunden wird. Christiane Kollmann: "Das könnte mir gefallen."