Norderstedt/Hamburg. Pianist Daniel Gerzenberg wuchs in Norderstedt auf. Über den sexuellen Missbrauch hat er ein Buch geschrieben, aus dem er jetzt las.

Wie ist es möglich, dass ein sexueller Missbrauch an einem Minderjährigen passiert, ohne dass das strafrechtlich verfolgbar ist? Und was muss passieren, damit heute aufwachsende Kinder besser vor Missbrauch geschützt sind? Um Fragen wie diese ging es am Donnerstagabend im Tonali-Saal in Hamburg. Der Pianist und Lyriker Daniel Arkadij Gerzenberg, aufgewachsen in Norderstedt, las aus seinem Buch „wiedergutmachungsjude“, in dem er eine eigene Missbrauchserfahrung verarbeitet.

Gerzenberg ist 33 Jahre alt und lebt seit einigen Jahren in Berlin. Vielen in der Hamburger Kulturszene ist sein Name ein Begriff. Er trat schon in jungen Jahren als aufstrebender Pianist in der Stadt auf, etwa in der Laeiszhale. Und hier ist er nach wie vor immer wieder für Konzerte zu Gast. Die Lesung im Tonali-Saal war nun aber eine ganz besondere Premiere. Denn hier las er erstmals in Hamburg aus dem Buch, in dem er die sehr persönlichen Erlebnisse schildert. Gut 20 Leute waren als Zuhörer in dem kleinen Saal – ein angemessen intimer Rahmen für das Thema.

„Ich bin als 17-Jähriger missbraucht worden und habe darüber ein Buch geschrieben“

In „wiedergutmachungsjude“, 2023 erschienen im Verlagsprojekt Rohstoff bei Matthes & Seitz Berlin, beschreibt Gerzenberg in Form von Lyrik jene Geschichte, die vor gut 20 Jahren in Norderstedt begann und in traumatischen Erlebnissen gipfelte. Den Missbrauch begeht in dem Text ein Kinderarzt, der nicht namentlich genannt wird, im Rahmen einer sogenannten Freundschaft und unter Ausnutzung einer Mentorenposition.

„Ich bin als 17-Jähriger missbraucht worden und habe darüber ein Buch geschrieben“, sagte Gerzenberg gleich zu Beginn der Lesung. Und er stellte auch klar, dass es ihm sehr wichtig ist, darüber zu sprechen. „Fragen sind sehr gewollt!“, so Gerzenberg. Dafür schob er immer wieder längere Pausen ein. Eine offene Atmosphäre des Austausches prägte den Abend, an dem Gerzenberg sehr souverän wirkte – und auch so, als sei jeder Moment des Abends ein kleiner, weiterer Schritt einer Befreiung von einem Trauma.

Als „Kontingentflüchtlinge“ kamen die Gerzenbergs aus der Sowjetunion nach Deutschland

Der Text beginnt damit, wie ein Kind „geschmuggelt in der Fruchtblase einer Konzertpianistin aus zerfallender Sowjetunion“ nach Deutschland kommt. Das Kind ist Daniel, mit zweitem Namen Arkadij. Wegen ihrer jüdischen Herkunft kann die Familie, als „Kontingentflüchtlinge“, in Deutschland Asyl bekommen.

Die Familie verschlägt es zuerst nach Hamburg und dann nach Norderstedt. Dort bezieht die Familie das „Übe-Haus“, einen Ort, an dem jeden Tag Stücke einstudiert werden können, ohne dass Nachbarn sich gestört fühlen.

Macht der Drill als Profi-Musiker anfälliger für Missbrauch?

Die Eltern, selbst durch die harte Schule sowjetischer Konservatorien gegangen, lassen auch dem kleinen Daniel eine musikalische Ausbildung angedeihen – und zwar mit strenger Disziplin. Gerzenberg beschreibt es ausführlich in seinem Buch. „Das ist auch schon Missbrauch!“, kommentiert das eine Zuhörerin in der Diskussionspause. Ganz so weit würde Gerzenberg in seinem Urteil wohl nicht gehen. Auf die Frage, ob heute mit seinen Eltern „versöhnt“ sei, antwortet er: „Es ist ambivalent. Ich sehe durchaus, dass ich heute mit der Musik meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Ich mache meinen Eltern heute keinen Vorwurf. Sie hatten es eben selbst als Kinder so gelernt.“

Später am Abend betont Gerzenberg aber auch, dass Menschen, die als Kinder einen bestimmten Drill erlebt haben – etwa als angehende Spitzensportler oder eben Musiker – anfälliger seien für sexuellen Missbrauch. Denn ihnen präge sich sehr früh die Erfahrung ein, dass ihre Grenzen verletzt werden, ohne dass sie lernen, dem etwas entgegenzusetzen.

Der Moment, als „der Kinderarzt“ in sein Leben tritt

Schließlich kommt in dem Buch der Moment, in dem „der Kinderarzt“ Daniels Leben betritt. Im Tonali-Saal wird es sehr still. Die Zuhörer sind dabei, wie erste Bande geknüpft werden, wie der Arzt sehr schnell zum Freund der Familie wird, wie er ein auffälliges Interesse am 13-jährigen Daniel entwickelt. Der Arzt schenkt ihm eine „Eule aus Holz“, stellt sie auf der Fensterbank seines Kinderzimmers auf: „Sie hält immer Ausschau nach Dir. Passt auf Dich auf. So wie ich.“

All das ist eine gezielte Anbahnung, eine Strategie, genannt „Grooming“, mit der das Vertrauen eines Kindes gewonnen, mit der Schritt für Schritt Grenzen verschoben werden. Gerzenberg, das wird er viele Jahre später sagen, war „im Alter von 13 bis 23 Jahren Teil einer päderastischen Beziehung“. Der eigentliche physische Missbrauch passiert zweimal, da ist Daniel 17 Jahre alt. Es wird im Buch explizit beschrieben. Aber bei der Lesung spart Gerzenberg eben diesen Teil aus, stattdessen ist Raum für Fragen und Diskussion.

„Praktiziert der Arzt noch?“, möchte eine Zuhörerin wissen. „Ja“, antwortet Gerzenberg. „Kennt der Kinderarzt dein Buch?“, fragt eine andere Zuhörerin. Die Antwort: „Ich gehe davon aus.“

Warum das Verfahren gegen den Arzt eingestellt wurde

Aber strafrechtlich war der Mann nicht zu belangen. Nach einem sehr schwierigen persönlichen Prozess, der gut zehn Jahre dauerte, zeigte Gerzenberg den Arzt schließlich bei der Polizei an. Das Verfahren wurde aber eingestellt. Wie das sein könne, wollte eine Zuhörerin wissen. Gerzenberg erklärt, dass für eine Straftat das „Ausnutzen einer Zwangslage“ hätte vorliegen müssen. „Oder der Arzt hätte mich zum Beispiel fesseln oder unter Drogen setzen müssen.“ Aber es sei damals eben eine „psychische Abhängigkeit“ gewesen, und ihre Ausnutzung sei eben nicht strafbar. Gerzenberg, das ist deutlich, glaubt sehr an die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats. Er sagt aber auch, dass man „über Gesetze wie diese diskutieren“ sollte.

Ob sich der Arzt denn einmal „entschuldigt“ habe, möchte ein Zuhörer wissen. „Ja“, sagt Gerzenberg. „Aber der Arzt hat seine Taten gleichzeitig bagatellisiert, deshalb konnte ich die Entschuldigung nicht annehmen.“ Dem Arzt sei es, so sein Eindruck, auch eher um eine Art „Absolution“ gegangen, also um Versöhnung im Sinne einer Befreiung von Schuld.

Die politische Dimension des Wortes „Wiedergutmachung“

In dem Titel seines Buchs lässt Gerzeberg sehr bewusst das Wort „Wiedergutmachung“ anklingen, mit seiner historisch-politischen Dimension. Gemeint ist der Umgang der Deutschen mit ihrer historischen Schuld nach 1945. Aufgeworfen wird die Frage, ob nicht auch hier eine ostentative Versöhnung nicht vor allem der moralischen Entlastung der Täter beziehungsweise ihrer Nachkommen diente. Auch darüber wurde viel im Tonali-Saal diskutiert.

Mehr Aufklärung über sexuellen Missbrauch gefordert

Dann ging es wieder um Kindesmissbrauch – und um die Frage, wie er verhindert werden kann. Ein Thema, das Gerzenberg spürbar am Herzen liegt. Ob er auch plane, an Schulen aus dem Buch zu lesen, fragte ein Zuhörer. Gerzenberg sagte, dass man sich bei einem Text wie diesem ein besonderes pädagogisches Konzept überlegen müsse. Aber er sagte auch: „So wie es sexuelle Aufklärung gibt, muss es auch Aufklärung über sexuellen Missbrauch geben!“ Laut Statistiken, so Gerzenberg, erlebten 9 Prozent aller Jungen und 18 Prozent aller Mädchen sexuelle Gewalt.

Um diese zu verhindern, sei es wichtig, dass Kinder lernen, was Grenzüberschreitungen sind – und dass sie diesen früh entgegentreten müssen. „Wenn ich damals meine Grenzen besser verstanden hätte, hätte ich vielleicht anders reagieren können.“

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Wichtig, das betonte Gerzenberg auch, sei das öffentliche, gesellschaftliche Gespräch über Missbrauch. Noch immer sei das Thema zu stark tabuisiert. „Um ein Kind zu missbrauchen, braucht es ein ganzes Dorf“, heißt es in seinem Text. Und öffentliche Tabus, das zeigen unzählige Fälle aus vielen Jahrzehnten, schützen die Täter. Das öffentliche Sprechen ist für Gerzenberg nun auch Teil eines „Heilungsprozesses“, wie er sagt. „Es war unglaublich wichtig für mich, dass mit Glauben geschenkt wurde. Und hier heute in Hamburg zu lesen, ist unglaublich bedeutsam. Es fühlt sich gut an.“

Daniel Arkadij Gerzenberg, wiedergutmachungsjude, Rohstoff, 130 Seiten, ISBN 978-3-7518-7010-8.