Norderstedt. Der Schriftsteller wuchs in Norderstedt auf. Am 22.2. liest er in Hamburg aus seinem Buch „wiedergutmachungsjude“.

  • Daniel Gerzenberg wuchs in Norderstedt auf, galt schnell als aufstrebendes Musiktalent.
  • Damals kam es zu Erlebnissen, die er viel später in dem Buch „wiedergutmachtungsjude“ beschrieb.
  • Aus diesem Buch liest er am Donnerstag, 22.2., im Tonali-Saal im Hamburger Grindelviertel.

Es sind Vorwürfe, die sehr schwerwiegend sind. Sexueller Missbrauch, Ausnutzung einer Autoritäts- und Mentorenposition, gezielte Anbahnung einer sogenannten Freundschaft zu einem Minderjährigen, der damals erst 13 war. Diese Vorwürfe erhebt der in Norderstedt aufgewachsene Lyriker und Pianist Daniel Arkadij Gerzenberg – und zwar gegen einen Kinderarzt, der nicht namentlich genannt wird.

Gerzenberg beschreibt diese Dinge in Form von Lyrik, in reimlosen Versen, in dem Buch „wiedergutmachungsjude“, kürzlich erschienen im Verlagsprojekt Rohstoff bei Matthes & Seitz Berlin. Was er schildert, ist eine Geschichte von Macht und Missbrauch, die vor gut 20 Jahren in Norderstedt beginnt. Und die danach sein Leben prägt. Gerzenberg: „Ich war im Alter von 13 bis 23 Teil einer päderastischen Beziehung.“

Die Erlebnisse hat er sich nun endlich, Jahre später, von der Seele geschrieben. Er wollte sie verarbeiten, mit dem künstlerischen Mittel der Lyrik. Auf die Weise, so Gerzenberg, wolle er „die Macht über die eigene Geschichte zurückgewinnen“, aus der Opferrolle treten. Aber nicht zuletzt geht es ihm auch darum, die Sache öffentlich zu machen. „Ich hoffe, dass das anderen Opfern sexualisierter Gewalt Mut macht, über ihre Erlebnisse zu sprechen“, sagt er.

Gerzenberg stammt aus einer jüdischen Musikerfamilie, die 1990 nach Deutschland kam

Gerzenberg ist heute 32 Jahre alt und lebt seit Jahren in Berlin, wo er neben seiner Tätigkeit als Lyriker und Pianist Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen wahrnimmt. In Norderstedt verbrachte er Kindheit und Jugend, machte sein Abitur am Coppernicus-Gymnasium. Vielen in der Stadt ist sein Name ein Begriff, denn er machte schon sehr früh als aufstrebendes Musiktalent von sich reden.

Gerzenberg stammt aus einer jüdischen Musikerfamilie, die 1990 aus der Sowjetunion nach Deutschland kam. Seine Mutter ist die Pianistin Lilya Zilberstein, sein Vater der Trompeter Alexander Gerzenberg. Mit seinem Bruder Anton gründete Daniel das „Duo Gerzenberg“, das immer wieder nationale Musikpreise gewann und in Norderstedt oft in der TriBühne und im Kulturwerk zu sehen war. Später gewann Daniel Arkadij Gerzenberg als Liedbegleiter nationale und internationale Preise und trat im Duo mit Sängerinnen europaweit auf. Er studierte in Hamburg an der Hochschule für Musik und Theater und später an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.

Als der Kinderarzt in sein Leben tritt, ist er sieben Jahre alt

Als der Kinderarzt in sein Leben tritt, ist Daniel Arkadij Gerzenberg sieben Jahre alt. Im Buch beschreibt er, wie dieser zur Familie nach Hause kommt und ihn erstmals behandelt, „erinnere mich wie er / über mir stand / sein blick“. Die Textstelle erläutert er so: „Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich mich ganz komisch gefühlt habe.“ Aber in den folgenden Jahren passiert erst einmal nichts Ungewöhnliches.

Das ändert sich, als Daniel 13 Jahre alt ist. „als ich anfing zu rebellieren / sollte ich zum jugendpsychologen / meine mutter fragte meinen kinderarzt / ihr könnt auch in meine sprechstunde kommen / sagte er / nach dem termin in seiner praxis / saß er eine woche später / in meinem kinderzimmer [...] was du mir erzählst / bleibt unter uns“

„Er hat eine private Beziehung aufgebaut, die seine beruflich auferlegten Grenzen verwischte“

Daniel Arkadij Gerzenberg sagt heute, das sei eine Anbahnungsstrategie, genannt „Grooming“, gewesen. Das bezeichnet die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht, mit der stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird. Gerzenberg: „Der Kinderarzt hat eine private Verbindung aufgebaut, die seine beruflich auferlegten Grenzen verwischte, wodurch er gesetzlich klare Regeln umgehen konnte.“

Der Arzt wird zu einem Freund der Familie. Aber besonders scheint er sich für den 13-jährigen Daniel zu interessieren. „Vordergründig ist er wie ein Wohltäter aufgetreten, machte sich zu meinem Mentor. Er unterstützte mich zum Beispiel bei Schulprojekten“, schildert Gerzenberg.

„Das Alter spielt keine Rolle“, habe der Arzt gesagt

Aber dabei blieb es nicht. Der Arzt ließ die Beziehung enger werden, verwischte Grenzen, die zwischen einem über 40 Jahre alten Erwachsenen und einem Minderjährigen bestehen müssen. Gerzenberg: „Er schenkte mir Bücher, schrieb mir Briefe, tröstete mich bei Liebeskummer. Er lud mich immer wieder ein, in Cafés, zum Essen, auf Konzerte. Wir haben sehr viel gechattet und oft telefoniert, manchmal bis drei oder vier Uhr morgens. Und er sagte immer, das Alter spiele keine Rolle.“

Gerzenbergs Eltern fanden die ungewöhnliche Beziehung nicht seltsam. Er führt das auch auf deren Herkunft aus der Sowjetunion zurück, einer Diktatur, in der Themen wie sexueller Missbrauch nie in der öffentlichen Debatte waren. „Die konnten sich einfach gar nicht vorstellen, dass es so etwas gibt“, so Gerzenberg. Er betont auch, dass gerade Kinder aus postmigrantischen Familien gefährdet seien, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden.

„Dann schlug er vor, dass wir zusammen einen Porno schauen könnten“

Dann ist Daniel 17. Und der Kinderarzt, den Gerzenberg in dem Buch beschreibt, sagt: „du kannst auch bei mir übernachten“. Gerzenberg: „Er schlug dann vor, dass wir zusammen einen Porno schauen könnten. Und später fragte er, ob wir es uns gegenseitig machen können.“

Es kommt zu einer gegenseitigen Masturbation, die Gerzenberg ausführlich in seinem Buch beschreibt: „mein kinderarzt fasste mich an.“ Der Jugendliche sagt nicht nein, es ist vordergründig einvernehmlich. „Die psychologische Abhängigkeit war zu dem Zeitpunkt so groß, dass es mir in der Situation nicht möglich war, nein zu sagen“, sagt Gerzenberg. Und es kommt, kurze Zeit später, sogar ein weiteres Mal dazu.

Aber während sein Körper mitmacht, herrschen im Inneren Gefühle von Scham und Ekel bei Daniel. Dazu sagt er heute: „Da war eine Dissonanz zwischen meiner körperlichen Reaktion und meiner Psyche. Das ist ein Zwiespalt, ein Widerspruch, den Opfer sexualisierter Gewalt häufig erleben müssen. Und als Opfer bleibst Du in diesem Widerspruch gefangen, auch Jahre später noch.“

„Ich war ein Bild nach seinem Bilde“, sagt Gerzenberg heute

Gerzenberg betont auch, dass er nicht nur diese sexuellen Handlungen als Übergriffe ansieht, sondern eben auch die ganzen Jahre davor. „Der physische sexuelle Missbrauch ist zweimal passiert. Aber die Beziehung war nicht normal: Ich war ein Bild nach seinem Bilde, kleidete mich, wie es ihm gefiel, wurde die Art von kultiviertem Jüngling, die er gerne sehen wollte. Es fühlte sich damals wie Freundschaft an – das war ja auch gewollt. Erst Jahre später habe ich begriffen, dass ich manipuliert wurde.“

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Nachdem die sexuellen Handungen passiert sind, will Daniel die Sache vergessen, verdrängen, spielt sie auch für sich selbst herunter. „Man will ja nicht wahrhaben, dass man Opfer sexualisierter Gewalt ist“, sagt er heute. Aber ein Jahr später erzählt Daniel einem Freund davon. „Der nahm mich zu einer Beratungsstelle mit, obwohl ich das nicht wirklich wollte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt Angst, dass der Arzt seine Praxis verliert, wenn ich erzähle, was passiert ist. Er hat ja so viel für unsere Familie getan, habe ich mir gesagt.“ Danach schweigt er sechs Jahre lang und führt auch die Freundschaft zum Kinderarzt weiter.

Als Daniel Gerzenberg 23 ist, konfrontiert er den Arzt

Doch die Geschehnisse lassen sich nicht verdrängen. „Ich wurde depressiv, brach mein Studium ab, isolierte mich. Später beschäftigte ich mich viel mit dem Thema und las, dass so etwas typisch ist bei Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.“

Als er 23 Jahre alt ist, konfrontiert er den Kinderarzt schließlich. „Wir gingen zu einer Kulturveranstaltung, meine Mutter war auch dabei. Ich wollte nicht neben dem Arzt sitzen. Der wurde sofort sehr ungehalten, wollte auf der Stelle wissen, warum nicht. Nach der Aufführung habe ich ihm dann den Grund gesagt. Der Kinderarzt hat sich dann gerechtfertigt, sagte, ich hätte mich ausprobieren wollen. Meine Mutter war schockiert.“

Später, auch das schildert Gerzenberg in seinem Buch, habe der Arzt dann versucht, sich zu entschuldigen, bei Daniel und auch bei seinen Eltern. E-Mails habe er geschrieben, mit Sätzen wie „kann ich irgendetwas wiedergutmachen“, aber auch Formulierungen, in denen er beklagt, es werde aus einer „Mücke“ ein „Elefant“ gemacht. Dazu Gerzenberg: „Ich habe ihm diese Entschuldigungen nicht abgenommen, da es gleichzeitig immer darum ging, ihn von seiner Schuld freizusprechen.“

2019 zeigt Gerzenberg die Vorfälle bei einer Polizeistation an

Den Kontakt brechen Daniel und seine Familie nun ab. Und Daniel erfährt, dass der Arzt auch mit seinem jüngeren Bruder einmal einen Porno schauen wollte – der habe aber abgelehnt. Ob es weitere Fälle gab? „Ich weiß es nicht.“

2019, da ist Daniel 28 Jahre alt, zeigt er den Arzt schließlich bei einer Berliner Polizeistation an. Er berichtet von den beiden sexuellen Handlungen im Jahr 2008 und ist zuversichtlich, dass es zu einer Strafverfolgung kommt. Doch es kommt anders. In einem Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt, teilt eine Hamburger Staatsanwältin Gerzenberg mit, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei. Die Begründung: Eine Verurteilung des Beschuldigten sei nicht „mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten“. Denn der „geschilderte Sachverhalt“ erfülle „keinen Straftatbestand.“

Warum das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde

Der wesentliche Grund, den die Staatsanwältin anführt: Für eine Straftat nach geltendem Recht von „sexuellem Missbrauch von Jugendlichen unter 18 Jahren“ müssten die „sexuellen Handlungen unter Ausnutzen einer Zwangslage“ begangen worden sein. Eine Zwangslage hätte etwa dann vorgelegen, wenn „sich das Opfer in einer ernsten persönlichen oder wirtschaftlichen Bedrängnis“ befunden hätte.

Es müssten „gravierende Umstände vorliegen“, die geeignet seien, „die Entscheidungsmöglichkeiten des Jugendlichen gerade über sein sexuelles Verhalten einzuschränken“. Erfasst würden deshalb „insbesondere die Fälle drogenabhängiger oder von zu Hause fortgelaufener Jugendlicher, die ein Täter zu sexuellen Handlungen veranlasst.“

Diese Bedingungen sah die Staatsanwältin offenbar nicht erfüllt. Gerzenberg hätte sich der Situation entziehen und die Wohnung in der fraglichen Nacht jederzeit verlassen können, heißt es sinngemäß in dem Schreiben. Der Arzt habe auch sein berufliches „Obhutsverhältnis“ nicht ausgenutzt, da das Treffen ja „im Rahmen des privaten, freundschaftlichen Kontextes“ stattgefunden habe.

„Von dem Brief war ich niedergeschlagen“, sagt Gerzenberg. Er betont, dass er die Justiz natürlich respektiere, und auch die Unschuldsvermutung für „unglaublich wichtig“ hält. Aber er sagt auch, dass er sich strengere Gesetze gegen Missbrauch wünscht. „Es muss einen Weg geben, psychische Manipulation strafrechtlich greifbar zu machen“, sagt er.

Im Buch wird der Arzt verurteilt – mit den Mitteln der Lyrik

Bei der Aufarbeitung seines Traumas half Gerzenberg, der mittlerweile mit einer festen Partnerin zusammenlebt, eine mehrjährige Psychoanalyse. Und eben das Schreiben seines Buches, an dessen Ende er, Gerzenberg, den Arzt schuldig spricht und ihm mit dem Mittel der Kunst eine besondere Strafe zukommen lässt – stellvertretend für die nicht erfolgte Verurteilung im realen Leben.

Heute gehe es ihm „deutlich besser“, sagt Daniel Arkadij Gerzenberg, der auf den bisherigen Lesungen viel Zuspruch und bei der Buchpremiere Standing Ovations erhielt. „Mich haben auch andere Missbrauchsopfer angesprochen“, sagt er. „Ich möchte mit meinem Buch zeigen, dass auch Männer Opfer sexualisierter Gewalt werden können. Die Zahl der Frauen, denen das geschieht, ist wesentlich größer und es ist wichtig, das festzuhalten. Gleichzeitig ist die Dynamik sexualisierter Gewalt aber auch genderunabhängig.“

Die Details zur Lesung im Tonali-Saal

Norderstedt hat Daniel Arkadij Gerzenberg in den vergangenen Jahren gemieden. Seine Familie lebt mittlerweile in Wien. Aber auf die Frage, ob er denn für eine Lesung nach Norderstedt kommen würde, antwortet er sofort: „Auf jeden Fall!“

Ob der Kinderarzt, zu dem er keinen Kontakt mehr hat, das Buch gelesen habe, wisse er nicht. Ob so ein Mann, wie er ihn in seinen Versen beschreibt, eigentlich Kinder behandeln sollte? Daniel Arkadij Gerzenberg sagt dazu: „Ich kann nur sagen, dass er seine Tätigkeit genutzt hat, das zu tun, was er getan hat.“

Daniel Arkadij Gerzenberg, wiedergutmachungsjude, Rohstoff, 130 Seiten, ISBN 978-3-7518-7010-8. Daniel Gerzenberg liest am Donnerstag, 22. Februar, 19.30, aus seinem Buch. Veranstaltungsort ist der Tonali-Saal, Kleiner Kielort 3-5, Hamburg (Nähe U-Bahnhof Schlump). Tickets kosten 20 Euro, ermäßigt 10 Euro. Sie können unter Tel. 040/53 26 62 71 vorbestellt oder online über die Tonali-Webseite (www.tonali.de) gekauft werden.