Henstedt-Ulzburg/Kiel. Prozess um Autoangriff auf Antifa-Aktivisten in Henstedt-Ulzburg: Schutzbehauptung des Fahrers hat nun keinen Bestand mehr.

Mit der Vernehmung des letzten von etwa 20 Zeugen ist das Urteil im Prozess um versuchten Totschlag durch eine Auto-Attacke auf Teilnehmende einer Anti-AfD-Kundgebung in Henstedt-Ulzburg in greifbare Nähe gerückt. Die Aussage eines mutmaßlichen Gesinnungsgenossen des 22-jährigen Angeklagten aus Föhrden-Barl ergab am Montag keine Hinweise auf Gewalttätigkeiten linker Demonstranten als Auslöser der Tat.

Wie berichtet will der Angeklagte bei dem Vorfall am 17. Oktober 2020 als AfD-Mitglied beobachtet haben, wie einer seiner Freunde von dunkel gekleideten Antifa-Verfolgern zusammengeschlagen wurde. „Ich habe gedacht, die schlagen ihn gleich tot“, hatte der 22-Jährige beim Prozessauftakt im Kieler Landgericht erklärt. Er habe „leider falsch reagiert“ und Gas gegeben.

Zeuge chattete nach Autoattacke mit einem Begleiter des Angeklagten

Ein solcher Hintergrund seiner „Kurzschlusshandlung“ lässt sich aus der zehnwöchigen Beweisaufnahme aber nicht ableiten. Den letzten Zeugen, der sich gestern vor Gericht von seiner damaligen Neonazi-Gesinnung distanzierte, hatte der Staatsanwalt noch während des laufenden Prozesses ausfindig gemacht. Der zur Tatzeit in Eckernförde wohnende Handwerker (22) telefonierte und chattete unmittelbar nach der Autoattacke per WhatsApp mit einem Begleiter des Angeklagten, der sich am Tatort aufhielt.

Dem Angeklagten und seinen drei Freunden von der rechtsradikalen WhatsApp-Gruppe „Ortskontrollfahrt“ ist der Zeuge nach eigenen Worten nie persönlich begegnet. Er habe sich nur über soziale Medien mit einem Begleiter des damaligen AfD-Mitglieds ausgetauscht, der unter dem Pseudonym „Medic“ auftrat.

Vorgespielte Sprachnachrichten halfen dem Gedächtnis des Zeugen auf die Sprünge

Was der Zeuge von jenem „Medic“ aus erster Hand über den spektakulären Vorfall erfahren hatte, muss ihm die Vorsitzende der Jugendkammer mühsam aus der Nase ziehen: Drei Jahre nach der Tat beruft sich der 22-Jährige immer wieder auf Erinnerungslücken. Indem die Kammer den Zeugen mit Tonaufnahmen seiner eigenen Sprachnachrichten konfrontiert, hilft sie seinem Gedächtnis auf die Sprünge.

Laut Handy-Auswertung hatte der Zeuge am Tattag um 19.51 Uhr knapp eine Minute lange mit „Medic“ telefoniert. Und sogleich die Frage „Leben die Dinger noch?“ nachgeschoben. Mit „Dinger“ habe er wohl die Opfer der Autoattacke gemeint, räumte der Zeuge gestern ein. Das sei eigentlich nicht sein Sprachgebrauch, betonte der 22-Jährige. Davon distanziere er sich heute. „Ich war damals nicht der Schlaueste, was politische Sachen angeht.“

Reaktion auf Autoattacke: „Du wirst berühmt!“

Weiter erfuhr der Zeuge von „Medic“, das Fahrzeug des Angeklagten sei „etwas demoliert“ gewesen und von der Polizei „einkassiert“ worden. Danach will der Zeuge die Chat-Inhalte mit ersten Pressemeldungen über den Vorfall im Internet verglichen haben. Weil er dort gelesen habe, die Anti-AfD-Demonstranten seien von dem Fahrzeug nur „bedrängt“ worden, sei ihm Medics Darstellung „ein bisschen übertrieben“ vorgekommen.

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Das Gericht spielt dem Zeugen eine Sprachnachricht vor, in der „Medic“ mitteilt, er habe „Nazisticker verklebt“. Rechtsanwalt Björn Elberling, der einen der vier Nebenkläger vertritt, zitiert eine Reaktion des Zeugen: „Du wirst berühmt!“ habe er „Medic“ mitgeteilt und „diesen anderen Promo“ als Legende gefeiert.

Entscheidend für das Gericht ist die Frage, ob es vor der Autoattacke eine körperliche Auseinandersetzung zwischen AfD-Anhängern und -Gegnern gab. „Wurde jemand angegriffen, geschlagen, bedroht?“ will die Vorsitzende wissen. An so etwas kann sich der Zeuge nicht erinnern.

„Kein Hinweis auf irgendeinen Angriff, der die Tat hätte rechtfertigen können“

Oder ging es in den Chats und Telefonaten darum, dass jemand gerettet wurde, dass jemandem geholfen wurde? Der Zeuge schüttelt den Kopf. „Da wüsste ich jetzt nicht, was damit gemeint ist.“ Fazit für Rechtsanwalt Elberling: „Die Vernehmung ergab keinen Hinweis auf irgendeinen Angriff, der die Tat hätte rechtfertigen können.“

Bedroht und als „Fascho“ und „Nazi“ beschimpft fühle sich der Angeklagte: Wie sein Verteidiger Hummel gestern erklärte, habe „eine wahrscheinlich männliche Person aus dem Zuschauerraum“ seinem Mandanten am letzten Verhandlungstag im Vorbeigehen mehrere Aufkleber auf den Tisch geworfen.

Drohungen von der Antifa?

Einer der Sticker zeige einen „Nazi in einer Hochspannungsleitung“. Die Darstellung komme einer Todesdrohung gleich. „Mein Mandant ist sehr verunsichert und voller Sorge“, teilte Rechtsanwalt Hummel mit. Er forderte die Kammer auf, sich mit dem Geschehen auseinanderzusetzen.

Am Donnerstag möchte das Gericht die Gutachten des verkehrstechnischen und des psychiatrischen Sachverständigen hören. Nach der Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe könnten am 23. November die Plädoyers gehalten werden