Kiel/Henstedt-Ulzburg. Kumpel des Angeklagten will nicht gesehen haben, wie Menschen überfahren wurden. Auswertung der Handys steht im Widerspruch hierzu.

Diese Perspektive fehlte bislang noch im aufsehenerregenden Prozess um die Ereignisse vom 17. Oktober 2020 in Henstedt-Ulzburg. Wer am Steuer saß, als ein VW Amarok auf dem Gehweg in der Beckersbergstraße mehrere Menschen anfuhr und schwer verletzte, hat sich bei den bisherigen Verhandlungstagen vor dem Landgericht Kiel längst herausgestellt: Es war der Angeklagte, ein heute 22-Jähriger aus Föhrden-Barl. Aber er war nicht allein, drei weitere junge Männer begleiteten ihn. Und sie sollen nun im Zeugenstand beschreiben, was im Umfeld der AfD-Veranstaltung aus ihrer Sicht geschehen ist.

Nur: Ob das, was ein 21-Jähriger aus Weddelbrook ausgesagt hat, seinem Kumpel helfen wird, darf bezweifelt werden. Dutzende Mal weicht er aus, beruft sich darauf, „keine Erinnerung“ zu haben oder bekennt: „Das weiß ich nicht.“ Doch dass ihn die Vorsitzende Richterin Maja Brommann streng ermahnt, lässt dann doch tief blicken. „Ich will sie an ihre Wahrheitspflicht erinnern. Ich kann verstehen, sie sind mit [dem Angeklagten] befreundet, sie wollen ihm in irgendeiner Weise helfen.“ Aber so mache er es dem Gericht schwer, ihm zu glauben. Ähnlich hatte sie den Beschuldigten am ersten Prozesstag belehrt.

Prozess Henstedt-Ulzburg: Zeuge nennt Beschuldigten in Chat einen „Held“

Der Zeuge und der Angeklagte kennen sich schon einige Jahre. 2016 habe man sich „in der Mathe-Nachhilfe“ erstmals getroffen. „Ich würde ihn als sehr guten Freund“ bezeichnen, so der Mann, der momentan eine Ausbildung zum Mediengestalter macht. Und an der engen Verbindung hat sich trotz des laufenden Verfahrens nichts geändert. „Ich bringe ihn regelmäßig vom Sport nach Hause.“ Vor zwei Wochen sei er das letzte Mal bei dem Fahrer gewesen – nachdem der Prozess begonnen hatte. Vieles deutet darauf hin, dass sich Freunde und Familien gegenseitig informieren.

Seine Erinnerungen an den 17. Oktober fußen vor allem auf einem Aspekt: Eine „vermummte, dunkle gekleidete Gruppe“ habe die vier Männer vor Ort erst verfolgt und dann angegriffen. Er will Quarzsandhandschuhe gesehen haben. „Wir haben uns gefürchtet.“ Man wollte bei dem Angeklagten einsteigen und wegfahren, „das war der Plan“.

„Vorsichtig und langsam“ Aussagen stehen im krassen Widerspruch zu Schilderungen der Opfer

Doch, so der Zeuge, einer der Freunde sei noch zu seinem eigenen Auto gegangen, wollte wohl eine Jacke wegbringen. Dort hätten sieben bis acht Menschen „brutalst auf ihn eingeschlagen, wir waren schockiert. Sie haben nicht von ihm abgelassen.“

Dann geschah, was im Mittelpunkt der Anklage steht. „Es ist so gekommen, dass [der Angeklagte] auf den Bürgersteig gefahren ist, vorsichtig und langsam, im Schritttempo. Wir hatten damit gerechnet, dass jeder beiseite geht.“ Sein Statement könnte nicht weiter entfernt sein von den Schilderungen der Opfer. Denn diese hatten ausgesagt, dass der VW beschleunigt habe, und dass mit gezielten Lenkbewegungen Menschen erfasst worden seien.

Richterin ist verwundert: „Wir haben deutlich andere Versionen gehört“

Der Zeuge, der direkt hinter dem Fahrer saß, will davon nichts mitbekommen haben. Geräusche habe er wahrgenommen, „es haben Leute auf das Auto eingeschlagen“. Auf der Motorhaube sei „definitiv niemand gewesen“ Auch auf wiederholte Nachfrage der Richterin, später auch der Nebenklage und der Staatsanwaltschaft, rückt er davon nicht ab. „Wir haben deutlich andere Versionen gehört“, sagt Maja Brommann verwundert.

Auch das Protokoll der polizeilichen Vernehmung vom 19. Oktober 2020 widerspricht dem. „Wir haben ein paar der Angreifer getroffen, das heißt, wir haben sie angefahren“, ist dort als Aussage des Zeugen vermerkt. „Wir standen unter Schock“, rechtfertigt er sich rückblickend.

Chatprotokoll wird vorgelesen: „Die haben das verdient“

Die Handyauswertung stützt das ebenso wenig. „Die haben das verdient, eigentlich bist du sogar ein Held“, zitiert die Richterin. Der Zeuge kann sich nicht erinnern. Doch er wiederholt: „Ich finde, dass er es so gelöst hat, dass möglichst wenig Schaden entstanden ist. Es hätte Schlimmeres passieren können.“ In einem damaligen Chat klingt das noch so: „Du hast nicht tatenlos zugesehen, wie sieben Leute einen Jugendlichen verprügeln. Du bist einer von nicht vielen Visionären.“ Der Angeklagte schrieb übrigens zurück: „Ich kann mich darüber nicht wirklich freuen.“

Auch ein anderer WhatsApp-Auszug wird vorgelesen. „[Der Angeklagte] fährt voll wütend los, gibt einmal kurz Vollgas“, schrieb der Zeuge. „Das klingt irgendwie anders als ‘vorsichtig auf den Bürgersteig’“, findet Richterin Brommann.

Auch der Zeuge hatte Kontakte zur AfD – und zu einer Burschenschaft

Bemerkenswert entwickelt sich auch die Befragung über die Verbindungen in die rechte Szene. Denn die sind tiefer, als der Weddelbrooker zunächst zugeben möchte. Er sei 2020 noch bei der CDU gewesen – der Angeklagte war bekanntlich AfD-Mitglied. Doch auch der Zeuge hatte direkten Kontakt zu den Rechtsaußen. Den Kreisvorsitzenden Julian Flak kannte er, auch auf einem Stammtisch der AfD war er, wohl auch auf weiteren Veranstaltungen („Kann sein“), man habe sich über die rechtsextremistische Identitäre Bewegung unterhalten. Und: Es war der Zeuge, der sich am 18. Oktober 2020 mit Flak traf und ihm alles berichtete. Woher der AfD-Chef seine Nummer hatte, kann er nicht sagen.

Hinzu kommt: Der Zeuge stand offenbar der Gymnasialen Burschenschaft Germania in Kiel (Motto: „Ehre. Freiheit. Vaterland.“) nahe, die wiederum im gleichen Haus sitzt wie die Studentenverbindung Alemannia, der rechte Umtriebe vorgeworfen werden. Er sei dort eingeladen gewesen, später nicht mehr hingegangen. „Es war nicht mein Ding, den ganzen Tag nur Bier zu trinken.“

Prozess Henstedt-Ulzburg: Bewunderung für rechte Verbindung – „Das sind echte Männer“

Er und der Angeklagte tauschten sich allerdings fünf Tage vor dem 17. Oktober 2020 hierüber aus. „Gehen deine Burschen auch zur AfD?“, war die Frage. „Vernetzung ist gut, solange es auch Leute sind, die auch die Tat sprechen lassen.“ Da hatte der Zeuge keine Zweifel. „Glaube mir, das sind echte Männer.“ Studenten, AfD-Mitglieder, einige seien bei der Bundeswehr.

Der besagte dritte Kumpel, der auf dem Gehweg von Gegendemonstranten attackiert worden sein soll, wird zu einem späteren Zeitpunkt vernommen. Bis dahin stehen hier die Aussagen im Kontrast zueinander. Einen der Menschen, die besagten Freund angriffen, sei, so der Zeuge, einer der Nebenkläger. Mit einem Seitenblick deutet er im Gerichtssaal auf den Mann. Was er hingegen nicht äußert, ist Bedauern gegenüber den Betroffenen, die zum Teil immer noch traumatisiert sind und dauerhafte körperliche Schäden erlitten haben. Der Angeklagte hatte sich hingegen am ersten Verhandlungstag entschuldigt.