Henstedt-Ulzburg. Attacke nach AfD-Treffen in Henstedt-Ulzburg: Nahm der Fahrer Tote in Kauf? Großes Interesse an Verhandlung.

An den 17. Oktober 2020 werden nur die wenigsten Menschen konkrete Erinnerungen haben. Doch für alle, die an diesem besagten Sonnabend in Henstedt-Ulzburg waren, in der Nähe des Bürgerhauses, haben sich die Ereignisse in das Gedächtnis eingebrannt. Teilweise auch traumatisch. Am Montag, 3. Juli, also fast drei Jahre später, beginnt um 9 Uhr am Landgericht Kiel der Prozess gegen einen jungen Mann aus Föhrden-Barl im Kreis Segeberg. Er wird der rechtsextremen Szene zugeordnet.

„M. S.“, diese Initiale verwendet die Staatsanwaltschaft in ihrer Mitteilung, soll mit einem Pick-Up auf dem Gehweg an der Beckersbergstraße in eine Gruppe von Menschen gefahren sein. Die Anklage gegen den heute 22-Jährigen: versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr. Das Verfahren hat längst eine politische Dimension. Und die angesetzten 15 Prozesstage verdeutlichen dessen enorme Komplexität.

Landgericht Kiel: Das Auto als Waffe – Prozess nach Angriff auf Antifa beginnt

Die AfD hatte in dem Gebäude, das der Gemeinde gehört, eine Veranstaltung mit ihrem damaligen Vorsitzenden Jörg Meuthen abgehalten. Der gesamte Tag war bereits von Unruhe geprägt, es gab eine Protestkundgebung von Menschen aus dem Ort, das Motto lautete „Keine AfD in Henstedt-Ulzburg“. Und es fuhren auch mehrere Dutzend Personen aus der antifaschistischen Szene – aus Hamburg und dem Umland – nach Henstedt-Ulzburg. Sie stellten sich der Partei, die mittlerweile vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird, sowie ihren Gästen lautstark und wütend entgegen.

Die Polizei sprach später von einer „nicht angezeigten Spontandemonstration“, von „Pöbeleien und Handgreiflichkeiten“ gegenüber AfD-Besuchern und Beamten. Aber ab diesem Zeitpunkt, ungefähr später Nachmittag, wird es unübersichtlich. Was Zeugen gegenüber dem Abendblatt sagen: Schon am Bahnhof in der Ortsmitte seien S. und seine Begleiter auffällig geworden gegenüber Demonstranten aus der linken Szene, die Polizei habe ihn weggeschickt, hin zum Bürgerhaus.

Angeklagter soll Propaganda für rechtsextremen Verein verteilt haben

Dort wurde es nicht besser. Der Angeklagte soll sich unter den Protest gemischt haben, der sich gegen die AfD stellte. Er verteilte, so Anwesende, Sticker des Vereins „Ein Prozent“, der mit seiner völkisch-nationalistischen Einstellung als gesichert rechtsextrem und verfassungsfeindlich gilt und der 2015 unter anderem auch von einem AfD-Funktionär in Sachsen gegründet wurde. Die Bezeichnung geht zurück auf die unter Rechtsradikalen verbreitete Auffassung, dass es nur ein Prozent der Deutschen bräuchte, um Ziele durchsetzen zu können.

17. Oktober 2020: Vor dem Bürgerhaus in Henstedt-Ulzburg demonstrieren Menschen gegen die AfD-Veranstaltung mit Jörg Meuthen.
17. Oktober 2020: Vor dem Bürgerhaus in Henstedt-Ulzburg demonstrieren Menschen gegen die AfD-Veranstaltung mit Jörg Meuthen. © Burkhard Fuchs

Die Männer wurden mehr oder weniger aus der Kundgebung geworfen. Nach Abschluss der AfD-Veranstaltung, Medien sind keine mehr vor Ort, passierte genau der mutmaßliche Angriff, der nun verhandelt wird. S. und ein weiterer Mann stiegen in einen geparkten VW Amarok – und wenige Momente später rammte das 3,5 Tonnen schwere Fahrzeug erst zwei männliche Antifa-Aktivisten und dann eine weibliche Demonstrantin. S. saß am Steuer.

Henstedt-Ulzburg: Ein Polizist gibt vor Ort einen Warnschuss ab

Der Angeklagte wurde vorläufig festgenommen, später auf dem Revier vernommen, aber dann wieder freigelassen. Rund um den Wagen wuchs die Menge. „Bedrohlich und aggressiv“ sollen 20 Personen gewesen sein, hieß es drei Tage später in einer Mitteilung der Polizei. Deswegen gab ein Beamter einen Warnschuss ab – schon das ist ein sehr ungewöhnliches Mittel. „Überzogen“ sei das gewesen, haben Zeugen dem Abendblatt gesagt.

Die Aufarbeitung hat sehr lange gedauert. Für große Empörung nicht nur in der linken Szene, sondern auch bei allen Henstedt-Ulzburgern, die sich im Ort gegen die AfD engagieren, sorgte die erste Einschätzung der Polizei, noch am 17. Oktober, rund drei Stunden nach der Tat, als die Rede davon war, dass „im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert“ wurde.

Ein Opfer steht mit bleibenden körperlichen Schäden vor der Frührente

In diesen Tagen, kurz vor dem Prozessauftakt, haben sich zwei der Opfer in der „Taz“ geäußert. „Der Fahrer gab Vollgas und raste auf uns zu“, sagte ein heute 47-Jähriger. Er sei mit der Motorhaube getroffen worden, er wurde weggeschleudert. Der Mann hat bleibende Schäden erlitten, steht nach eigener Aussage wegen Rückenschmerzen vor der Frühverrentung. Eine dunkelhäutige Frau (24) habe lange mit den Folgen gekämpft, sei ein Jahr in Therapie gewesen.

Im Frühjahr 2021 kam die Staatsanwaltschaft Kiel letztlich zu dem Schluss: Es war kein Unfall, auch eine Notwehrsituation habe nicht vorgelegen. Vielmehr sei S. mit „bedingtem Tötungsvorsatz“ in die Gruppe gefahren. Das heißt: Dass es keine noch schlimmeren Verletzungen, möglicherweise mit tödlichen Folgen gegeben hat, ist vielleicht nur Glück gewesen.

Staatsanwaltschaft stützt sich auf Gutachten und Zeugenaussagen

Ein Gutachten darüber, wo der Amarok-Truck fuhr und wie schnell, dazu Zeugenaussagen und die Ermittlungen der Polizei – darauf stützt sich die Anklage. Nicht bekannt ist, ob sich S. oder seine Begleiter geäußert haben beziehungsweise ob sie das vor Gericht tun wollen. Beobachter schätzen, dass die Verteidigung in Richtung einer Impuls-Handlung argumentieren könnte, vielleicht auch mit einer Angst des Beschuldigten vor der Antifa.

Mehrfach wurde in den letzten Jahren in Henstedt-Ulzburg gegen die AfD und Rechtsextremismus demonstriert. Der Ort hat mittlerweile eine Symbolwirkung erlangt.
Mehrfach wurde in den letzten Jahren in Henstedt-Ulzburg gegen die AfD und Rechtsextremismus demonstriert. Der Ort hat mittlerweile eine Symbolwirkung erlangt. © Christopher Mey

Das Landgericht ließ die Anklage im November 2021 zu. Dass das Hauptverfahren erst jetzt startet, soll mehrere Gründe haben: Teilweise änderten sich die zuständigen Personen, es gab die Pandemie, und es hatten andere Prozesse Vorrang. Bei S. wurden offenbar weder die Gefahr einer Verdunklung noch einer Flucht gesehen. In Untersuchungshaft saß er nie, das könnte bei einem möglichen Strafmaß ein Faktor werden.

Nebenklage: Angriff ist eindeutig rechtsextremistisch motiviert

Die Tatmotive spielen ebenso eine Rolle. Aus Sicht der Nebenklage, diese vertritt die angefahrenen Personen, ist die politische Motivation eindeutig, und zwar rechtsextrem. Social-Media-Profile und dort sichtbare Verbindungen (später gelöscht) und auch das Verhalten am 17. Oktober werden hier als Belege genannt. Wie eng das Verhältnis zur AfD ist? Eine frühere Mitgliedschaft und auch Bekanntschaften werden S. nachgesagt.

Das „Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg“ hat daran keine Zweifel. Der Angeklagte „war zum Tatzeitpunkt AfD-Mitglied, folgte diversen rechten Accounts und posierte mit einem Shirt des rechten Rappers Chris Ares“, sagt Sprecherin Sonja Petersen. Der Zusammenschluss hat sich aus Solidarität mit den Opfern formiert, wird am Montag ab 8 Uhr vor dem Landgericht eine Kundgebung abhalten. „Wir werden vor Ort sein, den Prozess kritisch begleiten“, heißt es. „Wer von Rechten angegriffen wird, darf nicht allein gelassen werden!“

Landgericht: Großes Interesse am Prozess – Öffentlichkeit könnte ausgeschlossen werden

Auch Mitglieder des „Bündnisses für Demokratie und Vielfalt“ aus Henstedt-Ulzburg haben ihr Kommen angekündigt. Wie viele von ihnen auch im Saal dabei sein können, lässt sich nicht sagen. Die Plätze sind begrenzt, auch für Medien, hat das Landgericht bereits mitgeteilt. Und möglicherweise findet der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, sofern dies von der Verteidigung beantragt und dem auch stattgegeben wird. Der Grund: S. war zum Tatzeitpunkt rechtlich ein Heranwachsender.

„Eine Signalwirkung“, hört man, erhoffen sich diejenigen, die sich in der Region gegen Rechtsextremismus stark machen. Sprich: Eine Verurteilung, eine Haftstrafe, und eine Einstufung als rechte Gewalttat. Längst nicht nur im Norden wird das aufmerksam verfolgt. Auf Twitter finden sich nicht nur unterstützende Worte aus Hamburg oder Leipzig, sondern auch von der „New York City Antifa“ mit über 70.000 Abonnenten. „Henstedt-Ulzburg sei kein Einzelfall“, sondern müsse in einem globalen Kontext gesehen werden, in dem Rechte die Anwendung von Gewalt normalisieren. Dass die Großgemeinde sogar in den USA Thema sein würde, auch das war am 17. Oktober 2020 nicht absehbar.