Kiel. Bei dem Angriff wurden mehrere Menschen schwer verletzt. Im Prozess gibt der Angeklagte Einblick in seine wirre Gedankenwelt.

Er trank kurz vor der Tat „Reichsbrause“ mit Wehrmachts-Design und veröffentlichte das auf Instagram, in der von ihm geführten Chatgruppe wurden Fotos und Videos mit eindeutig rechtsradikalem Bezug verschickt, er suchte online Anschluss in einem Rechtsrock-Forum, abonnierte einschlägige Newsletter und trug Springerstiefel – und war zum Tatzeitpunkt tatsächlich Mitglied der AfD. Der erste Tag in dem Prozess gegen M. S. aus Föhrden-Barl (Kreis Segeberg) vor dem Landgericht Kiel entwickelt sich zu einer bemerkenswerten Befragung des Angeklagten – insbesondere durch Maja Brommann, die hartnäckige Vorsitzende Richterin der 2. Großen Strafkammer.

S., heute 22 Jahre alt, wird vorgeworfen, am 17. Oktober 2020 in Henstedt-Ulzburg mit einem VW Pick-Up vorsätzlich in eine Gruppe Demonstranten aus der Antifa-Szene gefahren zu sein, wodurch es mehrere zum Teil Schwerverletzte gab. Der mutmaßliche Angriff geschah im Anschluss an eine AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus der Gemeinde. Die Anklage: versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr.

AfD-Mann fährt mit Auto in linke Demo: Zuvor machte er ein Selfie mit Wehrmachts-Limo

Schon zu Beginn sagt der Anwalt des Angeklagten, Jens Hummel, dass sich sein Mandant äußern wolle. Und: Es sei nicht zutreffend, hier eine „politische Dimension“ zu sehen. Aber wie kam es dann dazu, dass S. sein tonnenschweres Fahrzeug von der Parkbucht nicht nach links auf die Beckersbergstraße, sondern nach rechts auf den Gehweg steuerte?

Die Schilderungen von S. besagen, dass er und sein Freund T. eigentlich nur zu Mediamarkt in Henstedt-Ulzburg und dort nach Musik und Filmen suchen wollten. Dass im gleichen Ort die AfD ihren Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen begrüßte, habe er aber gewusst. Man wollte „vorbeifahren, wir haben gesehen, dass dort ein bisschen mehr los ist“. Denn es gab eine lautstarke Gegenkundgebung von Menschen aus dem Ort, aber auch unterstützt durch antifaschistische Aktivisten aus der Region.

Die Gruppe um S. wurde aus der Anti-AfD-Kundgebung geworfen

Letztlich waren sie dort zu viert, nachdem zwei weitere Kumpels hinzustoßen – aber nicht willkommen. „Scheiß Nazis, scheiß Faschisten“, hörten sie. „Ich hatte das Gefühl, dass man uns die ganze Zeit beobachtet hat.“ Wenig später gingen sie zu ihren Autos, ihnen hatte die Organisatorin der Kundgebung nachdrücklich empfohlen, zu gehen, denn „es könnte Reibereien geben“.

Ein Solidaritätsbündnis demonstrierte vor dem Landgericht in Kiel. Die Unterstützer der Opfer sprechen in Zusammenhang mit Henstedt-Ulzburg von „rechtem Terror“.
Ein Solidaritätsbündnis demonstrierte vor dem Landgericht in Kiel. Die Unterstützer der Opfer sprechen in Zusammenhang mit Henstedt-Ulzburg von „rechtem Terror“. © dpa | Frank Molter

Der Angeklagte nennt nur zögerlich die wesentlichen Details, warum das Erscheinungsbild so auffällig war. Es scheint, als würde die Richterin die Ermittlungsakte mit ihm noch einmal durchgehen. Zum Beispiel die Springerstiefel. „Ich hatte welche. Ob ich die damals anhatte – wenn das aus der Akte hervorgeht, war das auch so.“ Ganz in schwarz sei er gekleidet gewesen, hatte einen Schal mit US-Flagge und Totenkopf umgewickelt, der eine Begleiter ein Cap mit „Sniper“, der andere einen „Lonsdale“-Pullover.

Die „Reichsbrause“ kaufte er im Shop eines thüringischen Neonazi

„Zecken glotzen“, das soll er im Chat geschrieben haben. S. weiß nicht mehr, ob das so war. Aufkleber hätte ein Kumpel gezeigt, „Antifa – Merkels Schlägerbande“ und „1 Prozent“, also von einem rechtsextremen Verein.

Und ein Getränk? Die Richterin fragt, und S. offenbart: Ja, er hatte eine Limo dabei, und zwar eine Flasche, auf der ein Wehrmachtssoldat und ein Motorrad zu sehen sind. So etwas gibt es nur in einem bestimmten Onlineshop, und zwar jenem des thüringischen Neonazis Tommy Frenck.

„Ich hasse die Linken“ sagte er einige Monate vor der Tat

Es kommt die Handyauswertung zur Sprache, Bilder, auf denen ein Mädchen Juden beschimpft, ein Harry-Potter-Video, auf dem eine Hakenkreuz-Flagge gehisst wird. „Ich hasse die Linken“, ja, das habe er mal gesagt, Anfang 2020. Zur Recherche von Angriffen durch Linksextreme, so seine Begründung, ging er in eine Community für rechte Rockmusik.

Nach und nach entsteht für die Beobachter im Gerichtssaal ein Weltbild voller rechter Ideologie und Symbolik. Auf seinem Smartphone ist der WhatsApp-Verlauf bis zum 19. Oktober übrigens gelöscht – aber vieles deutet darauf hin, dass seine Freunde hier nicht so gründlich waren. Und es gibt Hinweise, dass die Gruppe versucht hat, sich bei ihren Aussagen abzusprechen.

Er steuerte den Pick-Up zur „Abschreckung“ auf den Gehweg

Dass S. mit dem Amarok-VW seiner Mutter mehrere Menschen gerammt hat, bestreitet er nicht. Zuvor habe sie eine schwarz gekleidete Gruppe zur Straße verfolgt, es sei einer der Begleiter geschlagen worden, „ich wusste nicht, wie ich helfen sollte“, es ist die Rede von „Panik“ und „Angst“. Sein Ziel sei „Abschreckung“ gewesen. Aber S. sagt auch, dass alles binnen Sekunden geschehen sei. Auf den Bürgersteig sei er „gerollt“, habe erst Gas gegeben, nachdem er zuvor gebremst hatte.

„Was haben Sie gedacht, was mit denen passiert, die vor ihrem Auto sind?“, fragt die Richterin. Denn ein Unfallgutachten hat vielmehr eine Geschwindigkeit von 25 bis 35 km/h ergeben. „Ich habe ein, zwei Bumms gehört, und dann lag ein Mensch auf der Motorhaube.“ Diese Person sei dann „runtergekrabbelt“.

AfD-Mann fährt mit Auto in linke Demo: „Irgendwo hören meine Erinnerungen auf“

Danach will er das Auto zur Straße gelenkt haben. „Irgendwo hören meine Erinnerungen auf und fangen wieder an.“ S. kann nicht sagen, ob er als Fahrer gesehen habe, wie Menschen weggesprungen seien. Auch an eine Frau, die er anfuhr, erinnert er sich nicht.

Schließlich soll er auch seine Verbindung zur AfD beschreiben. S. verändert seine Aussage während des Tages, von Stammtischbesuchen und Aufhängen von Plakaten werden Besuche auf Wahlkampfveranstaltungen. Am 19. Oktober 2020 habe er die Partei verlassen. Und zwar nach einem Gespräch mit dem Kreisvorsitzenden Julian Flak. „Er hat mich gefragt, was aus meiner Sicht passiert. Er hat gesagt, ja, er denkt, es sei besser, auszutreten.“

In den nächsten Wochen sollen die Aussagen der Opfer, aber auch von Sachverständigen und der Freunde des Angeklagten die Tat und auch die Motivation klarer werden lassen. Der Prozess wird am 14. Juli (9 Uhr, Landgericht Kiel) fortgesetzt.