Mit der Vergrößerung sollte Helgolands Image erneuert werden, vom “Fuselfelsen“ zu “Hochseewelten“. Die Insulaner stimmten dagegen.

Es ist ein langer Weg vom Katamaran-Anleger im Südhafen, bis der eigentliche Ort der Insel erreicht ist. Mit ihren ratternden Rollkoffern zieht die Karawane der Passagiere vorbei an windschiefen Schuppen, einem Helikopter-Hangar und den ersten Schnapsläden. Helgoland präsentiert sich hier auf seinen ersten Metern eben noch wie eine verwehte Grenzstation am Ende der Zivilisation. Und nicht wie ein Ort, der seinen Besuchern eine einzigartige Hochseewelt bieten möchte.

Genau das wollten viele Helgoländer eigentlich ändern. Aber gestern stimmten 54,74 Prozent der 1312 Wahlberechtigten bei der Bürgerabstimmung gegen eine Verbindung der beiden Inselteile. Damit ist das Projekt "Hochseewelten" vorerst vom Tisch. Es sollte mit einer gigantischen Sandaufspülung zwischen Hauptinsel und der vorgelagerten Düne nicht nur 300 000 Quadratmeter neues Land für Hotels und Wassersport schaffen, sondern auch den schleichenden Niedergang von Deutschlands einziger Hochseeinsel stoppen. "Das Abstimmungsergebnis ist zu akzeptieren", sagte Tourismusdirektor Klaus Furtmeier dem Abendblatt. "Jetzt müssen wir sehen, ob wir an anderer Stelle aufspülen können. Denn Neuland braucht die Insel."

Klaus Grahmann steht dort, wo Helgoland ein bisschen wie Legoland aussieht: bei den "Hummerbuden", mit denen sich die Insel der Karawane von Tagesbesuchern nun freundlicher zeigt und die an Spielzeug-Reihenhäuser erinnern. Ursprünglich hatten die Hummerfischer hier ihre Werkstätten und Lagerschuppen. Gefischt wird heute nur noch selten, in viele der Buden sind mittlerweile Galerien, Andenkenlädchen oder Imbisse eingezogen. Grahmann, der draußen vor der Tür an einem Hummerkorb flickt, ist einer der letzten Fischer. Wie der Bürgerentscheid ausgehen würde, war ihm gar nicht so wichtig. Wichtiger sei, dass überhaupt etwas passiert mit der Insel, sagt er.

Vor dem Bürgerentscheid hatte sich die Inselbevölkerung in zwei Lager gespalten. In einigen Schaufenstern hingen Parolen für die Aufspülung, nebenan welche dagegen. Beide Parteien stritten, mitunter auch heftig. Aber trotz des Abstimmungsergebnisses weiß auch jeder Insulaner, dass auf Helgoland in den vergangenen Jahren Chancen vertan wurden. "Da wurde vieles verschlafen", sagt Fischer Grahmann.

Er deutet aufs Meer, wo vier alte, kleinere Passagierschiffe ankern: "Das waren mal zehn und mehr Schiffe." Als die in den 60er-Jahren gebaut wurden, nannten Spötter sie "schwimmende Pommesbuden", aber die Insel verdiente gut an den Schiffen: Sie brachten Urlauber von den Nordsee-Badeorten heran, die knapp dreieinhalb Stunden blieben. Einmal rauf aufs Oberland, rundherum Meer gucken, dann sich schnell noch mit steuerfreien Alkoholika und Zigaretten eindecken, zwischendurch Tasse Kaffee, Stück Kuchen oder Fisch mit fettigen Bratkartoffeln: Das war das Helgoland-Programm und ist es noch. Der Insel bescherte es zu Spitzenzeiten 800 000 Tagesgäste, aber es trug ihr auch das Image als "Fuselfelsen" ein, unter dem sie heute leidet.

Vielleicht war das einigen Helgoländern egal, man verdiente ja gut, und nach 16 Uhr hatte man alles wieder für sich: den markanten Felsen, die klare Luft, die Stille, das Meeresrauschen und die Badedüne.

Aber das Geschäftsmodell mit dem eiligen Tagesgast läuft eben kaum noch. Schnaps und Zigaretten kaufen die Gäste selten in Massen, und wenn, dann im Billig-Discounter auf dem Festland. Die Schiffspassage nach Helgoland lohnt einfach nicht, wenn der Flug zum Malle-Ballermann billiger ist. Immer weniger besuchen die Insel.

Keine 300 000 Kurzzeit-Besucher zählt die Insel heute. Schiffsverbindungen wurden eingestellt, Jobs fielen weg, Läden machten zu. Lange schon gab es keinen Zahnarzt mehr, keinen Blumenladen, statt fünf Bäckereien ist es nur noch eine. Die Schülerzahlen sinken, weil Familien wegziehen. 2500 Bewohner, so wird geschätzt, braucht Helgoland, um als Gemeinwesen funktionsfähig zu bleiben. Es sind aber nur 1400.

Dabei hat Helgoland einmal mondäne Zeiten als Badeort erlebt, wurde im Gleichklang mit Sylt genannt. Man muss sich nur die alten Fotos und Plakate anschauen, die in den Hotels hängen. "Sylt oder Helgoland, sechs Tage für 69 Reichsmark", wirbt ein Plakat aus den Zwanzigerjahren, auf dem schlanke Schönheiten im Badeanzug posieren. Alte Fotos zeigen ein Helgoland mit prächtigen Gründerzeit-Gebäuden und verwinkelten Fischerhäusern.

Aber während Sylt ein mondäner Badeort geblieben ist, obwohl es im grauen Wattenmeer dicht vor der Küste liegt, wurde Helgoland eben der "Fuselfelsen". In der jüngeren Geschichte haben sich beide Inseln ganz unterschiedlich entwickelt.

Zwar wurden beide im Zweiten Weltkrieg von den Nazis zu strategischen Vorposten ausgebaut. Aber auf Sylt fielen nur wenige Bomben, anders als auf Helgoland, dessen Felsen die Briten unablässig unter Beschuss nahmen. Die Bewohner wurden evakuiert, die alte Ortschaft komplett ausradiert und schließlich zum Sperrgebiet. 1952 kehrten die ersten Helgoländer zurück, um 1955 begann der Aufbau einer komplett neuen Siedlung.

Dass der 50er-Jahre-Charme auf Dauer keine Zukunft mehr hat, ahnte man schon in den frühen 80er-Jahren. Unter dem Projektnamen "Maritim" sollte ein riesiger Hotelkomplex die Wende bringen, solvente Investoren standen bereit. Schon damals spaltete die Planung das Inselvolk in zwei Lager, der Riss ging manchmal quer durch Familien. Das habe die Atmosphäre für lange Zeit vergiftet und Investoren vertrieben, sagen viele. Das Projekt wurde von einer Bürgerinitiative gestoppt.

Heute ist die Skepsis gegenüber der geplanten Insel-Erweiterung offenbar doch größer, als Bürgermeister und Planer erwartet hatten. "Die Landverbindung wäre unsere letzte Möglichkeit, als Gemeinde eine Zukunft zu haben", sagen die einen. "Das Projekt mit Kosten von gut 100 Millionen Euro behindert nur notwendige Investitionen in vieles andere", sagen die anderen. "Etwas muss aber passieren" - diesen Satz hörte man vor der Abstimmung aber immer wieder, aus beiden Lagern.

Bis 2008 sank nicht nur die Zahl der Tagesgäste, auch die wenigen Übernachtungsgäste blieben oft aus. Mit 2000 Betten bietet Helgoland ohnehin viel weniger als etwa Amrum mit 30 000. Doch ab 2008 stiegen die Übernachtungszahlen erstmals wieder, zuletzt um fast 30 Prozent. Detlev Rickmers, der allein vier Häuser auf der Insel betreibt, registrierte sogar Zunahmen im Winter. Die Leute kamen zur Robben-Beobachtung oder um in der kalten Jahreszeit die tobende Nordsee zu erleben. Natur, Hochsee, Stille - die Faszination dieser Insel wird, so scheint es, von einer neuen Klientel entdeckt.

Daran wollte sich auch das Projekt "Hochseewelten" orientieren, an dem Rickmers mitgearbeitet hat. Yachthäfen, neue Strände, Natur - dafür sollte auf der aufgespülten Fläche Platz sein. Rickmers versprach sich davon auch einen Imagewandel der Insel. Das zeigt er bei einem Spaziergang im Unterland. Dort stehen die in verschiedenen erdigen Farben gestrichenen Häuser dicht an dicht. In kleinen Gassen wachsen Stockrosen und Stechpalmen. Die Sonne schimmert über die Dächer hinein in diese Welt, die friesisch und mediterran zugleich anmutet. Immer wieder blinkt am Ende der schmalen, autofreien Straßen das helle Meer.

Seit den 90er-Jahren stehen die rund 800 Häuser der Insel unter Denkmalschutz. Das sei Problem und Potenzial zugleich, sagt Rickmers. Zum einen sind Wohnungen und Gästezimmer so klein wie in den bescheideneren 50er-Jahren, sechs Quadratmeter für ein Gästezimmer etwa. Aber der Denkmalschutz erlaubt keine Erweiterung, manchmal nicht einmal moderne Energiedämmung.

"Anfangs war ich Gegner des Denkmalschutzes", sagt Rickmers. Doch das hat sich ziemlich radikal geändert, seit er sich mit der jüngeren Geschichte der Bebauung befasste. Tatsächlich konnten in den 50er-Jahren Architekten hier ihre Vorstellungen vom demokratischen Bauen verwirklichen: "Hier war ja alles weg, die konnten sich da richtig austoben", sagt Rickmers. Bauliche Einheitlichkeit und viele ausgeklügelte Details machen die Siedlung laut Rickmers einzigartig in Deutschland. Beispielsweise sind alle Dachneigungen mit 32 Grad so entworfen, dass eine Hausreihe die nächste nicht beschattet. Bis in die fünfte Reihe hinein wurde so versetzt gebaut, dass immer der Blick auf die See gewahrt ist.

Für die Farbgestaltung engagierte man damals den Künstler Johannes Ufer. Der fand am Strand Vorbilder für die 13 erdigen Farben der Häuser, die das bunte Bild prägen, das so an Legoland erinnert. Auf dem Oberland hingegen wurden die Gebäude weiß gelassen, ihre schwarzen Dächer sollen eine klare Linie zum Himmel bilden.

"Das hat alles einen Wert an sich und wird gerade entdeckt", sagt Rickmers. Tatsächlich haben die Immobilienpreise - 4000 und deutlich mehr Euro pro Quadratmeter - schon Großstadt-Niveau erreicht. Weil sich die Insulaner das kaum leisten können und wegziehen, kaufen sich Festländer hier ein. Man brauche daher Platz für neue Wohnhäuser auf der Insel, sagt Rickmers. Ohne Aufspülung werde sie sich langsam zum exklusiven Hochsee-Ressort entwickeln, "nur eben ohne Gemeinde und ohne Helgoländer."

Kurz nach 15 Uhr zieht wieder eine Karawane von Passagieren zurück zum Wasser, vorbei an Hotels und Hummerbuden. Ein langer Weg für einen kurzen Ausflug. Der Weg für Helgoland zum Wandel dürfte noch etwas länger sein.