In Schleswig-Holstein werden Heranwachsende am häufigsten nach dem milderen Jugendstrafrecht verurteilt. Im Osten am seltensten.

Schwerin/Kiel/Hannover. Mecklenburg-Vorpommern geht mit jungen Straftätern härter ins Gericht als jedes andere Bundesland, Schleswig-Holstein milder als der Rest der Republik. Das geht aus dem Justizbericht des Statistischen Bundesamtes hervor. Der zeigt weitere regionale Besonderheiten bei der Auslegung der Gesetze: So hat Hamburg beispielsweise die bundesweit niedrigste Verurteilungsquote.

"Das Gesetz ist für alle gleich, bei der Auslegung kommt es offensichtlich zu Unterschieden", sagte der Grünen- Rechtspolitiker Thorsten Fürter, einst Sprecher des Hamburger Justizsenators und heute Landtagsabgeordneter in Kiel. Bestes Beispiel ist die Auslegung des Jugendgerichtsgesetzes, nach dem auch Heranwachsende im Alter von 18 bis 21 Jahren in den Genuss des oftmals milderen Jugendstrafrechts kommen können. In Mecklenburg-Vorpommern profitierte davon im Berichtsjahr 2009 nur gut die Hälfte (53 Prozent) der verurteilten Heranwachsenden. In Schleswig-Holstein waren es stolze 89 Prozent, in Hamburg 87 und in Niedersachsen 79 Prozent.

Rückendeckung für ihren harten Kurs bekommen die Gerichte in Mecklenburg-Vorpommern von ihrer Justizministerin Uta-Maria Kuder (CDU). "Ich begrüße, dass die Richterinnen und Richter unseres Landes dem Sinn und Zweck des Gesetzgebers entsprechend entscheiden", sagte sie dem Abendblatt.

Hintergrund: Nach dem Gesetz soll ein Heranwachsender eigentlich nur in besonderen Fällen wie ein Jugendlicher behandelt werden, etwa wenn eine "Reifeverzögerung" vorliegt oder es sich um eine jugendtypische Straftat wie eine Schlägerei nach einem feuchtfröhlichen Disco-Besuch handelt.

In dieselbe Kerbe schlägt der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU). Er verwies zwar auf die richterliche Unabhängigkeit, forderte die Gerichte aber auch auf, sich die Entscheidung nicht zu leicht zu machen. Mit der Anwendung des Jugendstrafrechts für Heranwachsende müsse "verantwortlich umgegangen werden, mit Prüfung in jedem Einzelfall", sagte er dem Abendblatt und ergänzte mit Blick auf die höchst unterschiedlichen Ergebnisse der Bundesländer: "Es gibt schon Fälle, wo man sich wundert."

In Schleswig-Holstein ist der gesetzliche Sonderfall einer Jugendstrafe für Heranwachsende fast die Regel. "Es hat den Anschein, dass unsere Justiz liberaler ist als in anderen Bundesländern", sagte der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig, Heinz Döllel. Viele Richter seien sozial eingestellt und entschieden im Zweifelsfall zugunsten des Heranwachsenden. Klar ist, dass der jeweilige Justizminister kaum Einfluss auf die Spruchpraxis hat. Richter sind unabhängig, und als äußerst nachsichtig galten die Gerichte in Schleswig-Holstein schon in den 80er-Jahren, also nach mehr als drei Jahrzehnten CDU-geführter Regierungen.

Eine "historische" Erklärung für das starke Ost-West-Gefälle hat der Kriminologe Professor Christian Pfeiffer. "In der DDR wurden alle Heranwachsenden nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt, die neuen Bundesländer brauchen Zeit, den Wechsel zu akzeptieren. Die Abstände aber werden bereits deutlich kleiner." Im Gespräch mit dem Abendblatt warnte der Chef des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover zudem vor dem Trugschluss, Erwachsenenstrafrecht sei immer die härtere Variante: "Bei Alkoholdelikten im Straßenverkehr sieht das Jugendstrafrecht zusätzlich zu einer Geldstrafe die Möglichkeit von gemeinnütziger Arbeit vor, das trifft die jungen Leute oft viel härter als die Geldstrafe, die die Großmutter zahlt."

Das Jugendstrafrecht sei viel flexibler, so Christian Pfeiffer. "Ich würde sogar einen Schritt weitergehen und empfehlen, alle 18- bis 20-Jährigen nach Jugendstrafrecht abzuurteilen, mit einer Einschränkung: Damit diese Regelung keine zu großen Vorteile bei Mord bringt, würde ich die Höchststrafe für Kapitaldelikte wie Mord im Jugendstrafrecht von zehn auf 15 Jahre erhöhen." Kriminologe Pfeiffer warnte zugleich davor, die Wirkung von Verurteilungen zu überschätzen: "Viel wichtiger ist es, das Risiko des Erwischtwerdens hoch zu halten."

Tatsache ist, dass es nicht nur für Heranwachsende statistisch gesehen einen großen Unterschied macht, wo ihnen der Prozess gemacht wird. In Hamburg gibt es nur in 72 Prozent der Strafverfahren einen Schuldspruch. Die restlichen Anklagen werden eingestellt oder enden mit Freispruch. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen liegt das Verurteilungsrisiko bei 80 Prozent und damit im Durchschnitt aller Bundesländer. In Mecklenburg-Vorpommern sind es 84 Prozent und damit fast so viel wie beim bundesdeutschen Schuldspruch-Spitzenreiter Baden-Württemberg mit 85 Prozent.