In Hamburg wird in Prozessen gegen Heranwachsende besonders häufig das Jugendstrafrecht angewendet und dem Allgemeinen Strafrecht vorgezogen. Das teilte das Statistische Bundesamt gestern auf Anfrage des Abendblatts mit.

Der Anteil an allen Urteilen, in denen eine Rechtsprechung nach Jugendstrafrecht infrage kommt, lag demnach bei rund 86 Prozent. Der bundesweite Durchschnitt liegt bei rund 63 Prozent.

Heranwachsende sind im juristischen Sinne vor Gericht alle Personen zwischen 18 und 21 Jahren. Bei ihnen hat der Richter die Wahl, ob er nach Allgemeinem Strafrecht oder nach Jugendstrafrecht urteilt. "Jugendstrafrecht muss dann angewendet werden, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat nach sittlicher und geistiger Entwicklung eher als Jugendlicher anzusehen ist oder wenn die Tat eine sogenannte Jugendverfehlung wie etwa bei einer jugendlichen Diebesbande ist", sagt Rolf Hannich vom Deutschen Richterbund. "Der Richter ist dabei in seiner Einschätzung unabhängig."

Laut dem Strafrechtler Bernd-Rüdeger Sonnen verzögert sich die soziale Entwicklung aber immer weiter bis ins dritte Lebensjahrzehnt hinein. Deshalb gebe es sogar in der fachlichen Diskussion Anregungen, die Zeitspanne, in der das Jugendstrafrecht angewendet werden kann, bis zum 27. Lebensjahr auszudehnen.

Hamburg liegt mit seinem hohen Anteil in der Statistik deutschlandweit allerdings nur an zweiter Stelle: In Schleswig-Holstein ist der Anteil mit 89 Prozent noch höher.

Die landläufige Vermutung, das Jugendstrafrecht werde aus reinem Mitleid mit den Angeklagten so häufig angewendet, lässt Sonnen nicht gelten. "Jugendstrafrecht ist kein Kuschel-Strafrecht", sagt er. Stattdessen stehe hier der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Deshalb biete es mit Täter-Opfer-Ausgleich oder Anti-Aggressivitätstraining als Beispiele für Haft-Alternativen eine größere Bandbreite an individuellen Maßnahmen als das Allgemeine Strafrecht. Dieses sieht nur Geld-, Bewährungs- oder Haftstrafen vor. Hamburg und Schleswig-Holstein seien deshalb in ihrer Rechtsprechung nicht einfach milde, sondern vielmehr besonders fortschrittlich. Schlusslicht in der Statistik ist Mecklenburg-Vorpommern mit einer Anwendung des Jugendstrafrechts in nur 46 Prozent der Fälle.