Hat der neue Landtag in Kiel nun 95 oder 101 Sitze? Haben CDU und FDP zusammen eine Mehrheit im Parlament oder nicht? Die Linke will das Verfassungsgericht anrufen.

Kiel. Die Entscheidung im Landeswahlausschusses über die umstrittene Mandatsverteilung im Kieler Landtag ist weiter offen. Die Grünen kündigten an, der Auslegung der Landeswahlleiterin nicht zuzustimmen. „Nach wie vor legen wir das Wahlrecht anders aus“, sagte Parteichef Robert Habeck.

SSW-Sprecher Lars Bethge sagte, „unser Entschluss ist noch nicht gefallen“. Seine Partei werde abwarten, ob CDU und SPD sich für Änderungen des Wahlgesetzes aussprechen. Nach Überzeugung des SSW müsse die Frage politisch und nicht im Wahlausschuss oder vor Gericht gelöst werden. Die SPD hat noch nicht festgelegt, wie sie abstimmen wird. CDU und FDP verfügen aufgrund von drei Überhangmandaten über eine Mehrheit im Landtag. Die Ausgleichsregelung im Wahlgesetz ist umstritten.

"Bei einer anderen Auslegung des Wahlrechts und einer gerechten Verteilung der Mandate gibt es kein Schwarz-Gelb", sagte der Vize-Spitzenkandidat der Linkspartei, Heinz-Werner Jezewski. Er werde dem Landesvorstand heute empfehlen, im Landeswahlausschuss auf ein anderes Berechnungsmodell zu dringen und andernfalls die Wahl vor dem Verfassungsgericht anzufechten.

Schützenhilfe bekam die Linkspartei von den Grünen. "Wir wären Idioten, wenn wir nicht überlegten, ob wir die Sitzvergabe ändern können", sagte der Chef der Öko-Partei, Robert Habeck. Die Lage sei aber schwierig und müsse in den Parteigremien diskutiert werden. Kritik an der Auslegung des Wahlrechts äußerte auch SPD-Vize Andreas Breitner. "Die Sitzverteilung im Landtag darf nicht vom Wahlergebnis abweichen."

Erste Adresse für Proteste ist der Landeswahlausschuss. Er entscheidet über die Auslegung des Wahlrechts und damit darüber, ob der Rechtsblock oder das Linkslager im Landtag eine Mehrheit hat. In dem Gremium sitzen neben Landeswahlleiterin Manuela Söller-Winkler Vertreter der sechs im Landtag vertretenen Parteien. Sind sich SPD, Grüne, Linkspartei und SSW einig, könnten sie mit einfacher Mehrheit die Sitzverteilung zu ihren Gunsten ändern.

Über den absehbaren Einspruch von CDU und FDP müsste der Landtag befinden, allerdings mit seiner neuen linken Mehrheit. In diesem Fall bliebe Schwarz-Gelb juristisch nur eine Wahlrechtsklage vor dem Verfassungsgericht und politisch der Versuch, mit Grünen oder SSW eine neue Mehrheit im Landtag zu bilden.

Das Wahlchaos in Schleswig-Holstein kommt nicht aus heiterem Himmel. Bereits seit der Kommunalwahl 2008 ist bekannt, dass das Wahlrecht nicht eindeutig ist und mindestens zwei Auslegungen zum Ausgleich von Überhangmandaten ermöglicht. Gleichwohl hat der Landtag im Frühsommer auf eine Klarstellung des komplizierten Wahlrechts verzichtet. Die CDU hatte kein Interesse, die SPD sah keinen Bedarf. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) geht davon aus, dass CDU und FDP im Landtag drei Sitze mehr haben als der Linksblock. "Wir können in Berlin und Kiel stabile bürgerliche Mehrheiten bilden." Er werde mit der FDP über die nächsten Schritte hin zu einer gemeinsamen Regierung sprechen. Während Carstensen in Berlin nach vorn blickte, wurde in Kiel eifrig darüber diskutiert, warum die Nord-Union gegen den Bundestrend abstürzte und das schlechteste Ergebnis seit 1950 einfuhr. Umweltminister Christian von Boetticher buchte einen Teil der Schlappe auf das Konto der HSH Nordbank, räumte aber auch ein, dass die Schulpolitik nicht bei allen Wählern ankam.

Andere CDU-Fürsten übten teils harsche Kritik an Carstensen. Demnach ist der Regierungschef kaum in der Lage, Schleswig-Holstein aus der Krise und die CDU aus dem Keller zu führen. Auf eine Palastrevolte gegen Carstensen deutet derzeit allerdings nichts hin, zumal er das Hauptwahlziel der CDU, eine schwarz-gelbe Regierung, gerade noch erreicht hat. Mittelfristig gilt der 62 Jahre alte Landesvater aber als Auslaufmodell, das spätestens in zwei bis drei Jahren das Regierungsamt abgibt.

Die SPD traf sich gestern Abend zum Scherbengericht. Ihr Spitzenkandidat Ralf Stegner hatte den Bruch der Großen Koalition in Kiel mitverschuldet und bewusst einen linken Wahlkampf geführt, um der Linkspartei das Wasser abzugraben. Sie schaffte dennoch den Sprung in den Landtag, während die SPD Wähler in der Mitte verprellte und ihr schlechtestes Ergebnis seit Kriegsende einfuhr. Stegner gilt auch vielen in der SPD als Sündenbock. Einen Putsch können sich aber selbst Kritiker des Partei- und Fraktionschefs kaum vorstellen, wohl aber, dass er den SPD-Vorsitz abgeben muss.

Im Landeshaus wurde unabhängig von allen Wahlrechtsfragen schon munter diskutiert, wer in einem schwarz-gelben Kabinett mitregieren darf. Demnach wackelt der Stuhl von Finanzminister Rainer Wiegard (CDU). Er könnte mit dem Innenressort abgefunden werden. Als Nachfolger Wiegards ist der CDU-Finanzexperte Frank Sauter im Gespräch. Er konnte sich in seinem Lübecker Wahlkreis nicht durchsetzen, soll nun in die Regierung eingebunden werden. Bei der FDP gilt deren Schulexperte Ekkehard Klug als Bildungsminister gesetzt. Fraktionsvize Heiner Garg liebäugelt mit dem Sozialressort.

Vorher sollen die Fraktionschefs gekürt werden. Bei der CDU könnte von Boetticher zum Zug kommen. Der Kronprinz hätte damit den Zugriff auf den Job des Ministerpräsidenten, falls Carstensen vorzeitig geht.