98 Prozent der Überwachungskameras verstoßen gegen das Gesetz. Die Polizei kann sogar in Wohnungen und Arztpraxen blicken.

Hannover. Ausgerechnet Polizei und Justiz in Niedersachsen verstoßen beim Einsatz der Videoüberwachung fast immer gegen gesetzliche Regeln zum Schutz der Privatsphäre. Was den Datenschutzbeauftragten des Landes, Joachim Wahlbrink, besonders ärgert: "Ein Unrechtsbewusstsein ist nicht vorhanden." Wenn der Datenschutzbeauftragte Verstöße moniert, geben ihm viele Polizeidienststellen und Gefängnisleitungen zu verstehen, dass sie mit der Big-Brother-Methode weitermachen wollen: "Ein Behördenleiter hat gesagt: ,Ihr könnt mich mal.'"

Wahlbrinks Problem ist, dass er zwar Bußgelder verhängen kann, wenn die Wirtschaft beim Einsatz von Videokameras Gesetze verletzt, dass aber staatliche Stellen ungeschoren davonkommen. Hier haben die Datenschützer keine Sanktionsmöglichkeiten. Bei der Vorstellung der entsprechenden Untersuchung machte Wahlbrink deshalb der Politik öffentlich Druck: "Dem Bürger wird strikte Gesetzestreue abverlangt, Fehlverhalten etwa durch Falschparken wird rigoros geahndet. Deshalb können die Bürger erwarten, dass staatliche Stellen sich ebenfalls ohne Wenn und Aber an die Gesetze halten."

Das Sündenregister von Land und Kommunen ist lang. Polizeikameras können in Wohnungen filmen, in Gefängnissen sind sogar Toiletten in Haftzellen videoüberwacht, statt weniger Tage werden die Daten oft sechs Monate und länger gespeichert: "Das alles ist grundgesetzwidrig."

Wahlbrink hatte von Dezember 2008 bis März dieses Jahres 3345 Kameras von Ministerien, Kommunen, Städten, Justiz und Polizei überprüft. Nur 23 untersuchte Kameras wiesen dabei keine Mängel auf. 71 Kameras, 45 Attrappen und 121 Aufzeichnungsgeräte müssen infolge der Untersuchung abgebaut werden.

Das Ergebnis nannte Wahlbrink "niederschmetternd": Bei 98 Prozent gab es Rechtsverstöße. Das reicht von nur formalen Fehlern wie der fehlenden Dokumentation bei der Aufstellung der Kameras über die nicht vorhandenen Hinweisschilder an den Standorten bis hin zu einem Schwenkbereich, der es erlaubt, in Umkleidekabinen von Badeanstalten genauso hineinzuschauen wie in Arztpraxen. Und die Polizei gewährte auch anderen Behörden und sogar Privatfirmen Zugriff auf die Bilder ihrer Kameras. Andere Videoaufzeichnungsgeräte waren ohne Problem für Unbefugte zugänglich und zudem leicht manipulierbar. Manche Behörde, so berichtete Wahlbrink auch, wusste nicht einmal genau, wie viele Kameras sie hatte installieren lassen.

Allein bei der niedersächsischen Polizei hat sich die Zahl der Kameras binnen zehn Jahren auf jetzt mehr als 600 vervierfacht. In den Gefängnissen war der Anstieg noch rasanter: von 47 Kameras auf 1652 binnen zehn Jahren. Wahlbrink stellte bitter fest: "Trotz der immens gewachsenen Zahl der staatlichen Kameras und der von ihnen produzierten Datenberge haben die öffentlichen Stellen ihre entsprechend gewachsene Verantwortung nicht ernst genommen."

Viele Kameras werden nach Einschätzung von Wahlbrink zudem nur angebracht, um ängstliche Bürger zu beruhigen. Tatsächlich würden dann die Aufzeichnungen nur sporadisch ausgewertet: "Ich warne ausdrücklich davor, den positiven Effekt von Videoüberwachung zu überschätzen." Es handele sich "um symbolische Installationen, die Sicherheit nur demonstrieren sollen". Lediglich in Einzelfällen führten Videoaufnahmen zur Aufklärung von Straftaten.

Aus der Sicht der Polizei Hannover ist die Kritik Wahlbrinks unangemessen. "Seine Argumentation ist wirklichkeitsfremd", sagte Polizeisprecher Stefan Wittke. Zudem gebe es in Niedersachsen gar keine Kennzeichnungspflicht für Kameras.

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Niedersachsen und der FDP sind auf der Linie des Datenschützers. Die Ergebnisse seien "insbesondere ein schwaches Bild" für Innenminister Uwe Schünemann (CDU), sagte GdP-Chef Bernhard Witthaut. Die FDP will sich jetzt im Innenausschuss des Landtages über die untersuchten Fälle informieren lassen. Auch die Landtagsfraktionen von Grünen und Linken sind gegen den "gesetzwidrigen" Einsatz der Kameras.

Ein besonderes krasses Beispiel für die Vorspiegelung von Sicherheit haben die Datenschützer übrigens in Goslar entdeckt. Dort hatte die Stadt 25 Attrappen installiert. Wahlbrink hat den Verantwortlichen der Verwaltung ins Gewissen geredet: "Der Staat darf nicht lügen, auch nicht durch Vorspiegelung falscher Tatsachen." Die Harzer haben die Attrappen abmontiert.