Beim Thema Organspende liegt Niedersachsen unter dem Bundesdurchschnitt. Ärzte machen die Landesregierung dafür verantwortlich.

Lüneburg. Im Sommer nimmt sie das Blut gerne ein bisschen kühler. 36 Grad vielleicht, das sei recht angenehm, wenn's draußen schwül ist, findet Michaela Wenzel. Damit sind die angenehmen Seiten der Dialyse aber auch schon aufgezählt. Seit zweieinhalb Jahren geht die 39-jährige Melbeckerin montags, mittwochs und freitags vormittags zur Blutwäsche. Normales Leben? Nicht mehr möglich, vor allem, weil Michaela Wenzel nicht nur an Diabetes mellitus Typ 1, sondern auch an einer Reihe von Folgeerkrankungen leidet. Eine Nierenspende ihrer Mutter soll im Oktober Besserung bringen.

Denn Michaela Wenzel will nicht mehr warten, will endlich wieder ein halbwegs normales Leben führen. Schließlich hat sie einen neunjährigen Sohn, der zwei Jahre lang "auf so vieles verzichten musste", sagt sie mit schwankender Stimme. "Er musste ja erst einmal lernen, mit mir und meiner Krankheit klarzukommen. Und er hat es wunderbar gemacht". Hätte sie ihren Sohn nicht gehabt, dann ... ja, dann hätte sie auch keine Kraft gefunden, damals, vor zwei Jahren, als alles losging.

"2009 war ein hartes Jahr für mich", sagt sie. Bis dahin war alles gut, alles normal: "Ich habe gearbeitet, im Büro und in der Gastronomie, ich bin ausgegangen, habe Sport gemacht, habe sogar ein Kind geboren, völlig ohne Komplikationen".

Doch dann: Wassereinlagerungen, Gewichtszunahme. So massiv, "dass ich Schwierigkeiten hatte, mich hinzusetzen, weil die Beine so dick waren". Es war klar: Irgendwas stimmte nicht. Die Diagnose hieß Nierenversagen, die Folge Dialyse. Michaela Wenzel wurde ein Herzkatheter eingepflanzt. Am 15. Januar 2009 wurde das erste Mal Michaela Wenzels Blut gewaschen, "das fand ich anfangs schon gruselig".

Damit nicht genug. Der Katheter entzündete sich, Wenzel hatte Wasser in der Lunge und einen Thrombus im Herzen. Infusionen sollten den Blutpfropfen auflösen - stattdessen schädigten sie die Augen. Neben einer Herz-OP musste die Melbeckerin dann auch noch diverse Augen-Operationen über sich ergehen lassen. "Richtig sehen kann ich aber trotzdem nicht mehr". Insgesamt habe sie fast ein halbes Jahr im Krankenhaus verbracht.

Und "ein Schwanz ohne Ende": Irgendwann versagten auch die Gleichgewichtsorgane, die Ursache ist nicht bekannt. Für die damals 37-Jährige bedeutete das: Frührente. "Inzwischen kann ich aber darüber lachen", sagt sie fast schmunzelnd, "ich warne morgens schon immer den Taxifahrer, der mich hierher zur Dialyse bringt, dass es mal wieder 2,5 statt nur zwei Promille sind". Auch hier stellt sich keine Besserung ein, im Gegenteil. "Aber ich muss einfach lernen, damit klarzukommen, und ich benutze auch zu Hause keinen Rollator." Stattdessen geht sie dann eben mal Rasen mähen, "daran kann man sich ja auch festhalten", lacht sie. "Auch wenn mich mein Mann für verrückt erklärt hat."

Ihr Mann. Seit einem halben Jahr seien sie zusammen, strahlt Michaela Wenzel. "Es ist so schwer, einen Partner zu finden, wenn man krank ist. Ich habe ihm gesagt: Ich bin Diabetikerin, muss zur Dialyse, kann nicht gucken und nicht gerade laufen. Ach ja, und alleinerziehend bin ich auch noch. Wer will denn so jemanden?" Ihr Mann wollte sie trotzdem. Und macht das einfach großartig, findet Michaela Wenzel: "Er akzeptiert, dass ich alles alleine machen will. Aber er sieht auch die Gefahren, die kommen könnten."

Er hätte auch gerne eine Niere gespendet, um seiner Partnerin das Leben einfacher zu machen. "Alle Tests waren positiv, aber der Ethikrat hat nein gesagt", klagt Wenzel. "Es würde nicht reichen, dass wir erst ein halbes Jahr zusammen sind."

Denn schließlich, so das Argument des Rats, könnte es ja sein, dass der Partner Geld für die Operation bekommt und danach auf Nimmer-Wiedersehen verschwindet - Stichwort Organhandel. Der sei durch das deutsche Transplantationsgesetz von 1997 "absolut ausgeschlossen", erklärt Dr. Andreas Schnitzler von der Praxis Dialyse-Lüneburg, der Michaela Wenzel betreut. "Früher war das durchaus ein beliebter Ausflug: über die Türkei nach Bombay zur neuen Niere. Mit katastrophalen Ergebnissen". In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren sei ihm ein solcher Fall aber nicht mehr untergekommen, "und wenn einer so etwas auch nur andeuten würde, wird er hier nicht mehr weiter betreut".

Für Michaela Wenzel bedeutete die strikte Linie des Ethikrats aber wieder: warten, warten, warten. "Die Gefühlsschwankungen sind das Schlimmste, schlimmer noch als die Dialyse", sagt sie. "Du hoffst und hoffst. Und wieder wird es nichts."

Dabei wurde sie noch nie nachts aus dem Bett geklingelt und in ein Transplantationszentrum beordert. Das kann vorkommen, denn schließlich muss es schnell gehen, wenn ein passendes Spenderorgan gefunden wurde. Oder vermeintlich passend: "Es kommt vor, dass bei weiterführenden Untersuchungen dann doch Ausschlussgründe gefunden werden", erklärt Carsten Moser, Leiter der internistischen Intensivstation und einer von zwei Transplantationsbeauftragten am Lüneburger Klinikum. "Manchmal wird das sogar erst festgestellt, wenn der Patient schon unter Narkose steht."

Die Vermittlung der Organe übernimmt Eurotransplant, eine Organisation mit Sitz im holländischen Leiden. Hier werden die Wartelisten geführt und die gespendeten Organe in sieben europäische Länder vermittelt. Sechs Lüneburger stehen auf der Liste, ein weiteres Dutzend im Landkreis.

Die Reihenfolge der Liste richte sich nach vier Kriterien, so Sandre Douma von Eurotransplant: Das Wichtigste sei das zu erwartende Transplantations-Ergebnis. Dann folge als weiteres Kriterium die Dringlichkeit der Transplantation. Drittens würden nationale Balancen berücksichtigt: "Eurotransplant befürwortet eine vernünftige Balance im Austausch der Organe zwischen den Ländern." Gibt es mehrere wartende Patienten, bei denen alle Punkte gleichermaßen zuträfen, entscheide die Länge der Wartedauer.

Und die ist meistens lang. "Es gibt einfach zu wenig Organspenden", klagt Birgit Blome, Sprecherin der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). "In Deutschland haben wir knapp 16 Organspender pro eine Million Menschen, in Spanien sind es 34. Wir gehen davon aus, dass in Deutschland sogar 35 bis 40 Spender pro eine Million Einwohner möglich wären."

Doch wenn der deutsche Durchschnitt schon nicht berauschend ist - Niedersachsen steht mit 12,7 Spendern pro Million Einwohner noch schlechter da. Den Grund für die schlechte Quote unseres Bundeslandes sehen Christian Frenkel und Carsten Moser, beide Transplantationsbeauftragte am Lüneburger Klinikum, auf politischer Ebene: "Niedersachsen hat es versäumt, ein Ausführungsgesetz zu verabschieden, so wie es andere Bundesländer getan haben", sagt Christian Frenkel. Damit würden Krankenhäuser verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu benennen. Laut dem Jahresbericht 2010 der DSO Region Nord melden nur gut die Hälfte der Krankenhäuser mögliche Organspenden.

"Grund hierfür ist einfach der Personalmangel", so Birgit Blome, "die Ärzte haben ohnehin sehr viel zu tun, und dann noch so ein Thema on top. Das ist schlichtweg häufig nicht zu leisten."

Denn nur zehn Prozent der Verstorbenen besitzen laut Blome einen Organspender-Ausweis, im Schnitt sollen es bundesweit 25 Prozent sein. Die Entscheidung über eine mögliche Organspende liegt ohne einen Ausweis derzeit bei den Angehörigen. "Der Arzt ist dann häufig überfordert. Das kann man nicht zwischen Tür und Angel klären, da braucht es meistens ein mehrstündiges Gespräch", erklärt Blome. Um die Krankenhäuser zu entlasten und mehr Organspenden realisieren zu können, starte deshalb demnächst das EfA-Projekt, das "Entscheidungsprojekt für Angehörige". Das heißt: "Speziell ausgebildete DSO-Mitarbeiter übernehmen die Gespräche mit den Angehörigen". Niemand soll dabei allerdings zur Organspende überredet werden, betont Blome.

In Lüneburg übernehmen diese Gespräche Carsten Moser und sein Kollege Christian Frenkel. Pro Jahr gibt es zwei bis acht Patienten, die als Organspender in Frage kämen, schätzt Moser. "2010 waren es zwei. Es gibt aber auch durchaus Jahre, in denen man niemanden findet." Es würde ihre Arbeit so sehr erleichtern, wenn mehr Menschen einen Organspenderausweis hätten, sagen die Ärzte. "Auch für die Angehörigen wäre das eine enorme Erleichterung", glaubt Moser, "es gibt ohnehin in den Stunden nach dem Tod eines geliebten Menschen genug zu verarbeiten und zu regeln. Wer will sich da auch noch mit Organspenden auseinandersetzen?". "Hauptsache, die Leute machen sich Gedanken", stimmt sein Kollege Frenkel zu, "man kann ja im Ausweis auch ankreuzen, dass man nicht oder nur bestimmte Organe spenden will."

Ein Wunsch, dem Michaela Wenzel aus vollstem Herzen zustimmt. Denn sollte die Niere ihrer Mutter nicht passen, muss sie weiter auf eine Organspende warten. Und das kann noch dauern: Laut Dialyse-Spezialist Schnitzler ist eine Wartezeit von sieben, acht Jahren "durchaus üblich".

Klappt es mit der Lebendspende der Mutter, braucht Michaela Wenzel noch eine neue Bauchspeicheldrüse. "Das heißt, ich müsste weiterhin noch Insulin spritzen", erklärt sie, "aber wenigstens fällt die Dialyse weg." Und das mit dem Spritzen sei heutzutage nicht mehr so schlimm: "Ich spritze, wie ich esse, man muss sich halt nur gut auskennen und einschätzen können, wie viele BE (Bewertungseinheiten) das sind." Cola Light, Eis, Kuchen - als sie als Elfjährige an Diabetes erkrankte, wurde das alles vom Speisezettel gestrichen. Heutzutage sei das dank besserer Insuline kein Problem mehr - in Maßen, versteht sich. Solange sie aber keine neue Niere bekommt, sind ihre Mahlzeiten oft recht eintönig "Man darf ja kaum etwas essen, wegen der Phosphate und Nitrate", klagt sie, "kein frisches Gemüse, keine abgepackte Wurst, Kartoffeln nur gewässert, und insgesamt nur ein halber Liter Flüssigkeit am Tag, das Essen eingeschlossen." Und allein schon deshalb freut sich Michaela Wenzel auf ihr neues Leben: "Dann kann ich endlich wieder ein bisschen gesund leben."