Der einstige Handelsbund verlieh der Stadt ihr Gesicht. Noch heute verbindet die Hanse ihre Mitglieder. Verklärung ist aber unangebracht.

Lüneburg. Es ist exakt 600 Jahre her, dass sich Vertreter von Hansestädten das letzte Mal zu ihrer jährlichen Tagung in Lüneburg trafen. Die neuzeitlichen Hansetage vom 28. Juni bis zum 1. Juli lassen 2012 den Blick noch häufiger als sonst zurück in Lüneburgs Historie schwenken. Doch wer mit der Hanse bloß positive Attribute wie "hanseatisch" und "länderübergreifender Bund" assoziiert, der irrt.

Genauso wenig, wie früher alles besser war, war in der Hanse alles gut. Die Hanse, eine über Jahrhunderte währende Verbindung zwischen Hunderten von Städten in Nordeuropa, war zwar in ihrer Form einmalig und vielleicht in gewisser Weise ein Vorgeschmack auf das moderne Europa. Doch die Hanse war kein Selbstzweck - sondern Kalkül.

Als sich die Vertreter der damaligen Hansestädte 1412 in Lüneburg zu ihrer "Tagfahrt" - der jährlichen Tagung - trafen, ging es um Transportwege, um Waren, um Verkaufsprovisionen, um das ewige Problem mit den Seeräubern - und die Verteilung von Privilegien. Was sonst! Denn Privilegien waren es, die in vordemokratischen Zeiten das entscheidende Konstrukt waren: Wer darf welche Straße nutzen? Wer darf welche Münzen prägen? Wer darf welche Mühle betreiben? Und so weiter.

"Ohne Privilegien ist die Hanse nicht vorstellbar." Das sagt Jürgen Landmann, Kulturreferent der Stadt Lüneburg, die seit 2007 offiziell den Namenszusatz "Hanse" tragen darf. Landmann hielt am Dienstagabend vor den Mitgliedern des "Clubs von Lüneburg" einen Vortrag über "Lüneburg und die Hanse".

Und hat mit einem landläufigen Vorurteil aufgeräumt: dem Eindruck, alles, was mit "Hanse" zu tun habe, sei gut. "Das war ein knallhartes Interessengeschäft", sagt der studierte Sozialpädagoge. Direkt neben der Gerichtslaube im Rathaus, der Ratsdörnse, wo die Entscheider der Stadt tagten, liegt denn auch das Archiv - gefüllt mit Dokumenten über Privilegien, die wichtigsten Urkunden der Zeit.

Wer die Kritik am Hanse-Bund plastisch auf die Spitze treiben möchte, könnte sagen: Wer Demokrat ist, kann mit der Hanse nichts mehr zu tun haben wollen, baute sie doch auf einem Konglomerat aus Absprachen, Korruption und Privilegien auf.

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Doch woher die positive Besetzung der Hanse und der Wunsch einer Stadt der Gegenwart, sich "Hansestadt" nennen zu dürfen, herrühren, ist auch klar. Denn die Hanse bedeutete für ihre Mitglieder so etwas wie Freiheit. Freiheit von den Landesherren. Wer Mitglied der Hanse war, war reich genug, sich freizukaufen von der Herrschaft der Fürsten, Könige und Kaiser: durch den Kauf von Rechten, Privilegien.

Und die Hanse war Mittel zum Zweck: den Reichtum zu stabilisieren und zu vergrößern. Denn Reichtum machte selbstständig - und selbstständig zu sein, war keinesfalls selbstverständlich.

Die Hanse machte ihre Mitglieder also auf gewisse Weise selbstständig und frei. Was im 12. Jahrhundert als eine Vereinigung deutscher Kaufleute zur Sicherung des Handels im Ausland begonnen hatte, wurde im Laufe von Jahrhunderten zur Städtegemeinschaft über Landesgrenzen hinweg. 1356 trafen sich die Städte zu ihrer allerersten Tagung - in Lübeck, das unangefochtene Oberhaupt der Hanse.

Was die Hanse nicht war, ist ein Verbund, ein Verein, eine Institution. "Sie war eine Verabredung", sagt Jürgen Landmann. "Und sie baute auf Verlässlichkeit." Wer nicht dabei war bei all den Absprachen und Verabredungen, wurde neidisch und missgünstig. Und wer die Hanse angriff, auf welche Weise auch immer, musste mit Gegenschlägen rechnen: 1470 erklärte die Hanse England den Krieg. Als der Lübecker Bürgermeister erfolglos aus einer Schlacht zurückkehrte, wurde er übrigens hingerichtet - auch das war die Hanse. Knallhart.

Vor einer Idealisierung also sollten sich die Bürger der heutigen Hansestädte in Acht nehmen. Zwar ist es für den Anblick der Stadt Lüneburg unbezahlbar und wunderbar, dass sie zur Zeit der Hanse, der prosperierenden Saline und des reichen Handels mit Salz über Lübeck in den gesamten Ostseeraum ihr Gesicht bekam. Davon zehrt Lüneburg schließlich noch heute. Doch die Lüneburger sollten auch wissen: Die Tugenden, die heute positiv als "hanseatisch" besetzt sind, sie stammen nicht aus der Zeit der Hanse - die im 17. Jahrhundert mit dem Dreißigjährigen Krieg 1618 bis 1648 im Übrigen endgültig zugrunde ging. Diese Tugenden stammen aus der Zeit danach.

Und dennoch: Die Hanse verbindet. Auch 350 Jahre nach ihrem Ende. Und das werden die Lüneburger und Hunderttausende Gäste Ende Juni positiv spüren. 110 Hansestädte der Gegenwart haben sich bereits angemeldet. Und es werden noch mehr werden.