Grünen-Abgeordnete Miriam Staudte wirft Landesregierung vor, Brisanz der Leukämie trotz neuen Falls zu ignorieren.

Lüneburg. Fast auf den Tag genau wurde vor einem Jahr bekannt, dass in der Elbmarsch erneut ein Kind an Leukämie erkrankt ist. Der Fall des damals neun Jahre alten Mädchens aus Horburg in der Samtgemeinde Bardowick war der 19. Fall rund um die Atomanlagen in Geesthacht (Schleswig-Holstein) seit 1989. Immer wieder in den Blickpunkt als mögliche Ursache für die weltweit höchste Blutkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen geraten das Kernkraftwerk Krümmel und der benachbarte GKSS-Forschungsreaktor. Doch geklärt ist bis heute nichts. Wissenschaftler und Politiker streiten weiter über die Methoden.

Auch in den vergangenen zwölf Monaten nach Bekanntwerden des 19. Leukämiefalls trat die Ursachenforschung auf der Stelle. Es scheint, als ob das Thema Leukämie in der Elbmarsch in Hannover keine Rolle spielt. Von den für die Aufklärung politisch Verantwortlichen im niedersächsischen Landtag ist nichts zu hören. Das sieht auch die grüne Landtagsabgeordnete Miriam Staudte aus Scharnebeck so. Sie gehört dem Sozialausschuss des Landtages an, der für die Aufklärung der Leukämie-Häufung zuständig ist. Sie kritisiert: "Die Behandlung des Themas verläuft im Ausschuss mehr als schleppend." Die Verzögerungen seien unerträglich und ein Schlag ins Gesicht der betroffenen Bevölkerung. Staudte weiter: "Die Anträge werden bewusst in die Warteschleife geschickt, damit stets behauptet werden kann, der Ausschuss sei am Thema weiterhin interessiert. Lobbyinteressen gehen hier vor, Gesundheitsschutz verkommt zur hohlen Phrase."

Das überrascht Hayo Dieckmann aus Reppenstedt nicht. Der Mediziner gehört der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) an. Er sagt: "Der wissenschaftliche Streit ist von der Politik inszeniert." Zum Schutz der Gesundheit der Kinder in der Elbmarsch, zur Verhinderung weiterer schlimmer Leukämieerkrankungen bei jungen Menschen, fordert Dieckmann die Opposition im Landtag auf, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Thema Leukämie in der Elbmarsch ins Leben zu rufen.

"Gleichzeitig müssen die Archive in Hannover und Kiel geöffnet werden. Es muss Unterlagen vom 12. September 1986 geben." An diesem Tag soll es in einer der Geesthachter Atomanlagen zu einem Unfall bei Experimenten mit Kernbrennstoffen gekommen sein, bei dem radioaktive Stoffe freigesetzt wurden. "Die Beweislage für das Leukämiecluster rund um Krümmel ist gesichert. Das Rätsel ist längst gelöst", sagt Dieckmann.

Der Leiter der Lüneburger Kreisgesundheitsamtes sagt, mit epidemiologischen Studien sei bereits bewiesen worden, dass schon der Normalbetrieb von Kernkraftwerken schwere Nebenwirkungen wie Blutkrebs bei Kindern und jungen Erwachsenen habe.

Aber in der Elbmarsch sei das Cluster so extrem, dass es nicht alleine mit dem Normalbetrieb des Atomkraftwerkes Krümmel zu erklären sei, so Dieckmann. "Dass es einen Unfall gegeben hat, ist bewiesen mit den Funden von radioaktiven Kügelchen im Boden der Elbmarsch und in Dachstaubproben." Das sieht auch Miriam Staudte so. "Wir fordern seit einem Jahr neue Bodenproben. In einem abgestimmten Verfahren sollen sie auf diese Kügelchen untersucht werden." Doch die Forderung werde von der Mehrheit im Landtag ignoriert.

Dieckmann fühlt sich bei der Ursachenforschung an vergangene ähnliche Debatten erinnert. "Alle Dinge, die Industrien gefährden, sind für die Politik ein Problem. So gab es 40 Jahre lang Streit darüber, ob Asbest Krebs auslöst." Die Liste lasse sich beliebig fortsetzen: Krebs durch Rauchen und Krebs durch Pestizide seien nur zwei Beispiele. Er zeichnet ein düsteres Bild für die Aufklärung der Leukämiefälle in der Elbmarsch: ,,Immer hat eine interessenorientierte Wissenschaft die notwendige Prävention verhindert."