Die etwas andere Kernspaltung: Das AKW Stade wird in Einzelteile zerlegt. In drei Jahren soll von der Anlage nichts mehr zu sehen sein.

Stade. Wie ein überdimensionaler Schokokuss steht er da. Wer ihn sieht, dem fällt sofort ins Auge, dass dieses halbkugelförmige Monstrum im Grunde gar nicht in die Landschaft passt. Saftig grüne Wiesen, Obstbäume, rote Backstein- und Fachwerkbauernhäuser stehen in dem kleinen Ort Bassenfleth bei Stade direkt hinter dem Deich an der Elbe. Menschen gehen gemächlich ihrem Alltag nach. Hier, bei Bassenfleth, beginnt die Altländer Idylle, die sich bis vor die Tore Hamburgs zieht. Und bei Bassenfleth steht der alles überragende Meiler des Stader Kernkraftwerks. Besser gesagt: das, was von dem Kraftwerk noch übrig ist.

Seit 2003 ist das Kernkraftwerk stillgelegt. Seit jenem Jahr wird vom Energiekonzern E.on der Rückbau des Atommeilers betrieben. Der Stader Atommeiler gehört zu den ersten derartigen Anlagen, die in Deutschland zurückgebaut werden, also stückweise dekontaminiert, abgebaut und verschrottet oder recycelt werden, bis vom Kraftwerk nichts mehr zu sehen sein wird außer einer grünen Wiese direkt neben dem Elbwasser.

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Burkhard Senkbeil, zuständig für die Standortkommunikation beim Kraftwerk, verfolgt den Rückbau der Anlage seit Anbeginn. Der E.on-Mitarbeiter ist zufrieden mit der bisher erreichten Arbeit. Ein Laptop präsentiert die Details des Rückbaus. Zahlen, Daten, Fakten. "Wir sind voll im Zeitplan", sagt er und lächelt entspannt. "Ende 2014, Anfang 2015 haben wir den Rückbau wohl abgeschlossen, dann wird das hier alles zur grünen Wiese", sagt er. Auf einer Fotomontage zeigt er, wie das Areal einmal aussehen soll. Schafe grasen dort, wo jetzt noch die Hülle des Atommeilers steht, wenige Meter entfernt plätschert die Elbe. "Wenn man jetzt nach draußen schaut, die ganzen Bauten sieht, kann man sich das nur schwer vorstellen, aber es wird wirklich alles verschwinden", sagt Senkbeil.

Ein Rückbau sei alles andere als einfach, erklärt er. Es sei nicht mit einem gewöhnlichen Abriss eines Hauses vergleichbar - Bagger, Abrissbirne, Abtransport und fertig. Nein, bei einem so hochsensiblen und großen Kraftwerk, da müsse alles von langer Hand geplant werden. "Und das haben wir", sagt er.

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Bereits 1972, als das Stader Kraftwerk ans Netz ging, lagen die Pläne für eine mögliche Demontage der Anlage fertig in den Schubläden der Betreiberfirma. Doch erst im Jahr 2000 mussten die Pläne herausgeholt werden. Der politisch gewollte Atomausstieg der rot-grünen Regierung war daran ebenso schuld wie die Kosten des Kraftwerks. Der Unterhalt der Anlage wurde immer teurer. "1998 sind wir an dem Punkt angekommen, wo sich der Aufwand, die Anlage zu erhalten und zu modernisieren, nicht mehr finanziell gerechnet hat", sagt E.on-Sprecherin Petra Uhlmann. Das Kraftwerk wurde also ausgeschaltet. Und dies, so sagt sie, unabhängig von politischen Rahmenbedingungen.

Lange ist es her, da war das Stader Kraftwerk ein Symbol für den wirtschaftlichen Aufbruch der Region. Stade war jahrzehntelang eine Verwaltungsstadt mit einer wenig ansehnlichen Altstadt. Der Verfall war überall zusehen, das nötige Geld für den Erhalt der Gebäude fehlte. Viele Stader sehen es heute als einen Glücksfall der Geschichte an, dass am 28. Juli 1967 der Bau eines Kernkraftwerks bei Stade beantragt wurde. Der Bau schritt zügig voran, am 17. November 1967 wurde mit der Errichtung des Druckwasserreaktors begonnen, am 29. Januar 1972 wurde bereits erstmalig Strom aus dem Atomkraftwerk in das Netz eingespeist. Im Mai wurde der Betrieb offiziell begonnen, und stromintensive Firmen, wie der Chemiekonzern Dow oder Aluminiumoxyd Stade (AOS) siedelten sich bei Stade auf einem riesigen, neu geschaffenen Industrieareal an.

Seitdem das Kernkraftwerk dort stand und die großen Konzerne im Gepäck, sprudelten mehrere Millionen Mark in die Stader Stadtkasse. Der damalige Bürgermeister Jürgen Schneider finanzierte mit den Millionen den Wiederaufbau der damals maroden Stader Altstadt, die heutzutage Tausende Touristen in die Hansestadt an der Unterelbe zieht. Die Stader hatten ihr Kraftwerk, das ihnen viele Arbeitsplätze, Geld und Wohlstand beschert hatte, lieb gewonnen.

Im Laufe der Zeit wandelte sich das Verhältnis vieler Bürger zur Atomkraft. Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde auch im Kreis Stade der Stader Reaktor mit Skepsis betrachtet. Nur nicht in Stade selbst. Dort outeten sich viele weiterhin als Freunde der Atomkraft. Als der Meiler dann geschlossen werden sollte, gingen 1998 rund 4000 Stader Bürger auf die Straßen, um dagegen zu protestieren.

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Heute, 14 Jahre nach der Pro-Kraftwerk-Demonstration, trauern viele Stader immer noch ihrem Atomkraftwerk nach. Die Stadtverwaltung gibt, seitdem der Meiler vom Netz ist, das Ziel aus, dass Stade wieder Energiestandort werden müsse. Dies, um das nun fehlende Geld in der Stadtkasse kompensieren zu können. Nicht wenige hoffen daher, allen voran die Christdemokraten und die Liberalen, aber auch einige Sozialdemokraten im Stadtrat, dass E.on in Stade neben dem Areal des Atommeilers ein Kohlekraftwerk bauen werde.

Doch dafür muss der Meiler erst einmal komplett abgebaut werden. Ein teures und umfangreiches Unternehmen. "Der Rückbau kostet uns etwa 500 Millionen Euro", sagt E.on-Sprecherin Uhlmann. 20 Millionen Euro habe alleine der Bau und Betrieb eines Zwischenlagers auf dem Gelände gekostet, auf dem belastete Materialien in sogenannten Konradcontainern zwischengeparkt werden - bis eine Endlagerung im Schacht Konrad möglich ist.

"Wir haben im Jahr 2000 mit der Ausarbeitung der detaillierten Rückbaupläne begonnen, 2005 konnten wir dann planmäßig beginnen", sagt Burkhard Senkbeil. Insgesamt vier Phasen umfasst der Rückbau, an dem etwa 120 E.on-Mitarbeiter und bis zu 400 externe Facharbeiter von Spezialfirmen beteiligt sind. Der Abbau des Meilers begann, nachdem alle 175 Brennstäbe mit einem Wert von etwa einer Million Euro pro Stück ausgebaut und zur Wiederaufbereitungsanlage in La Hague in Frankreich abtransportiert wurden. Rund zweieinhalb Jahre dauerte danach der erste Schritt des nuklearen Rückbaus. Der umfasste den Ausbau von Komponenten wie Flutwasserbehältern, Druckspeichern, Regelstabführungen, Frischdampf- und Speisewassersystemen sowie Turbinen und Generatoren. Senkbeil führt durch die Anlage, zeigt auf die gigantischen Räume, wo einst Generatoren standen. "Damit haben wir erst einmal Platz im Inneren des Meilers geschaffen, damit wir die notwendigen Werkzeuge hineinbekommen", sagt Senkbeil.

Für 90 Tonnen Materialentsorgung müssen, so erklärt der E.on-Mann, stattliche 130 Tonnen Werkzeug in den Meiler gebracht werden. Damit die Spezialwerkzeuge reinpassen, mussten extra Löcher in die sechs Meter dicke Außenwand geschnitten werden, zusätzlich mussten weitere Belüftungssysteme eingebaut werden, die im Inneren einen ständigen Unterdruck erzeugen. Damit solle sichergestellt werden, dass kein radioaktiv belasteter Staub in die Umwelt gelangt.

In der zweiten Phase sei der Abbau der Großkomponenten im Kraftwerk angegangen worden. "Wir haben im August 2007 die vier Dampferzeuger samt Pumpen und Druckbehältern ausgebaut. Die 160 Tonnen schweren, 16 Meter langen Behälter mit 4,5 Meter Durchmesser mussten an allen Öffnungen verschweißt und dann gekippt werden", sagt Senkbeil. Die Komponenten wurden später mit einem Schwimmkran auf ein Schiff gehievt und nach Schweden transportiert, wo sie eingeschmolzen wurden "Die radioaktive Schlacke ist dann, wie geplant, zu uns für die Endlagerung zurückgekommen", sagt der E.on-Mitarbeiter.

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Ende 2007 konnte die dritte, die komplizierteste Phase des Rückbaus in Angriff genommen werden. Am Ende dieser Phase befinde man sich gerade. All jene Komponenten wurden nun ausgebaut, die am stärksten belastet sind: der Reaktordruckbehälter und die meterdicke Betonabschirmung um ihn mitsamt dem sogenannten Splitterschutzring. Fachleute nennen diesen Betonschirm den "biologischen Schild" des Reaktors. Er schütze, ähnlich einem Käfer, mit seiner harten Hülle das empfindliche Innere.

Sowohl der Schild als auch der Reaktordruckbehälter sind von den aus dem Reaktor entweichenden Neutronen aktiviert worden. "Das bedeutet: Die Radioaktivität ist fest in das Material eingebunden und kann nicht, wie bei den anderen Komponenten des Kraftwerks, mit einer gründlichen Dekontamination entfernt werden", sagt Senkbeil "Da können sie schrubben, so viel sie wollen, das kann nicht mehr abgewaschen werden."

Der E.on-Mitarbeiter hat inzwischen über Treppen und einen abenteuerlich wirkenden Fahrstuhl nach etlichen Biegungen und Windungen durch das Labyrinth des Meilers die oberste Etage erreicht. Ein Blick nach unten zeigt die riesigen Löcher, die in den Massen von Beton klaffen, seitdem fast alle Komponenten abgebaut worden sind. Senkbeil zeigt auf ein großes quadratisches Loch. Dort, so erklärt er, war einst der Reaktorkern. "Nachdem die Reaktorbecken gereinigt wurden und das partikelfreie destillierte Wasser, das nicht radioaktiv werden kann, frei verdampft wurde, haben die Arbeiter angefangen, das Brennelementebecken aufzuschneiden", erklärt Senkbeil.

Für das Zerschneiden des Betons werden sogenannte Seilsägen benötigt. Etwa fingerdicke, mit Diamanten besetzten Stahlseile werden durch ein Bohrloch gezogen und an eine frei schwebende, mit etlichen Kabeln und Motoren versehene Apparatur angeschlossen. Diese Seilsäge wird fräsend durch den Beton gezogen. Seit Juli 2010 wird so gesägt und zertrennt. "Diese Arbeit machen wir unter speziell belüfteten Schutzplanen, um die Staubbelastung im Meiler so niedrig wie möglich zu halten und andere Mitarbeiter keinem unnötigen radioaktiven Risiko auszusetzen", sagt der E.on-Mitarbeiter. "Die Betonelemente werden dabei in kleine Packmaße zersägt." Jedes Teil wiegt später nur etwa 500 Kilogramm und kommt in spezielle Kisten, um dann zur Dekontamination und später zum Schreddern gefahren zu werden.

Die Massen, die bewegt werden, sind gigantisch. 330 000 Tonnen Material müssen insgesamt von dem Kraftwerksgelände abgetragen werden. Nur 3000 Tonnen, so erzählen Senkbeil und Uhlmann, seien so stark verstrahlt, dass sie in ein Endlager müssten. Der Rest könne nach der Dekontamination wieder in den Wertstoffkreislauf zurückgeführt werden. "Das ist eine sehr gute Bilanz", sagt Uhlmann. Der aktivierte Beton, der nicht mehr dem Wertstoffkreislauf zugeführt werden kann, wird später in einem Betonbrecher zerkleinert und zum Verfüllen der Konradcontainer genutzt.

Die schlimmste der Arbeiten sei geschafft. Doch der Ausbau des Reaktorbeckens ist ebenfalls eine langwierige Aufgabe für die Arbeiter. Aus dem sieben Stockwerke hohen Becken müssen erst sogenannte Linearbleche herausgeschnitten werden, bevor das Becken mit Pressluftbohrern und Stemmbaggern in kleine Blöcke zerkleinert und in den Schacht Konrad abtransportiert werden kann. Wenn das alles geschafft ist, beginnt Phase vier des Rückbaus.

"Das ist der Bereich, bei dem noch einiges an Arbeit bevorsteht, der aber einfacher zu schaffen ist", sagt Senkbeil. Diese Phase soll bis Ende 2014 abgeschlossen sein. Dann werden die noch verbliebenen Systeme im Kontrollbereich abgebaut sowie Umluftanlagen, Schalldämpfer, Abwasser- und Abluftanlagen. Der Estrich des Meilers wird 2,5 Zentimeter tief aufgestemmt. Zugleich wird ein zusätzlicher Lüftungsschacht durch die 60 Zentimeter dicke Betondecke des Meilers getrieben. Alle verbliebenen Gebäudestrukturen werden dann dekontaminiert, bis der gewöhnliche Abriss aller Gebäude und der Wasserbauwerke am Elbufer angegangen werden kann. Der soll bis Ende 2015 abgeschlossen sein. "Das sieht dann aus wie ein ganz gewöhnlicher Abriss, wie man ihn woanders auch sieht", sagt Uhlmann.

Der Rückbauplan des Konzerns betreffe nicht nur das Gebäude, auch die Mitarbeiter sind Teil des Plans, erklärt die E.on-Sprecherin. Alles sei so geplant, dass ein guter Teil der Mitarbeiter in Altersteilzeit oder in den Ruhestand gehen kann, wenn die Arbeiten abgeschlossen sind. "Wir haben auch jüngere Mitarbeiter hier, die sind für uns wertvoll", sagt die E.on-Sprecherin. Deren in Stade gesammeltes Know-how soll für den Rückbau anderer Meiler künftig genutzt werden. Und auch international würden sich für diese Mitarbeiter neue Optionen eröffnen. Denn nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern, in den USA oder Asien werden und müssten Atomkraftwerke ja irgendwann zurückgebaut werden.

Die Sehnsucht nach dem Atomkraftwerk, ist sie immer noch da? "Ja, bei vielen", sagt Uhlmann. "Es gab ältere Mitarbeiter, die jahrelang bestimmte Maschinen gepflegt haben. Dass diese Maschinen dann rüde zerschlagen wurden, das hat viele tief verletzt."