In Lüneburg sacken einige Häuser ab. Die Mieter müssen ihre Wohnungen verlassen. Stützen sollen beim Auszug für Sicherheit sorgen.

Lüneburg. Alte Salzstadt nennen Gästeführer die 1056 Jahre alte Hansestadt Lüneburg gern, wenn sie Touristen die Treppengiebel und Backsteinfassaden zeigen. Mehr als 1000 Jahre lang pumpten die Lüneburger Sole aus dem Untergrund und wurden reich damit. Heute zahlen sie den Tribut dafür: Der Boden sinkt ab. Im besten Fall führt das zu krummen Holzbalken, im schlimmsten Fall zur Einsturzgefährdung. Wie jetzt.

Mindestens 26 Mieter haben gestern erfahren, dass sie ihre Wohnungen verlassen müssen. Nicht für ein paar Tage, sondern für immer. Die jungen Leute leben mitten im Lüneburger Senkungsgebiet nahe dem Salzstock, in der Frommestraße 5. Das Haus ist nach Angaben der Stadtverwaltung akut einsturzgefährdet. Zimmerer arbeiten bereits an ersten Stützmaßnahmen. Doch zu retten ist das Gebäude wohl nicht, ebenso wenig wie das Nachbarhaus.

Es ist vier Jahre her, da sorgte ein Haus wenige Hundert Meter Luftlinie entfernt für Aufsehen: Der Ochtmisser Kirchsteig war die Sorgenstraße Nummer eins in Lüneburg. Bis zu 35 Zentimeter gibt der Boden dort pro Jahr nach, lässt Asphalt platzen und Mauersteine reißen. Auch dort galt im Jahr 2008 ein Haus aus den 50er-Jahren als einsturzgefährdet. Seither ragen Eisenstangen als Statiksicherung durch die Zimmer. Die Familie hat sich längst damit abgefunden, dass Tortenböden niemals gleichmäßig geraten und dass sie Suppenteller nicht vollfüllen sollten - das Haus war extrem einseitig abgesackt.

Von schräg gefüllten Kaffeetassen am Frühstückstisch und dem Muss, den Kopf beim Schlafen nach oben auszurichten, erzählten auch die jungen Leute in der Frommestraße seit Jahren - und fanden das Leben im schrägen Haus lange eher lustig als bedrohlich. Keine kleinen Siedlungshäuser stehen dort, sondern große Gründerzeitbauten, die mehr als 100 Jahre alt sind. Wohngemeinschaften leben in dem Haus. Die Probleme unter den Gebäuden sind die gleichen wie am Ochtmisser Kirchsteig: Der Untergrund sackt auch im Fromme-Viertel, Lüneburgs Sorgenstraße Nummer zwei, ab.

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Die Stadtverwaltung hat auf ihren unberechenbaren Boden reagiert, eigens eine Senkungsbeauftragte mit dem Thema betraut. Mit der aktuellen Entwicklung hat im Baudezernat niemand gerechnet. "Wir sind davon ausgegangen, dass das Haus nach einigen Sicherungsmaßnahmen standsicher ist", sagte Lüneburgs Stadtbaurätin Heike Gundermann gestern. Ein von der Stadt in Auftrag gegebenes Gutachten aber resümiert jetzt: Das Haus ist aus sich heraus nicht mehr standsicher, lautet das Fazit der aufwendigen Arbeit inklusive endoskopischer Untersuchungen von Decken und Wänden.

Beauftragt hatte die Stadt den Gutachter, weil der Eigentümer der Aufforderung der Verwaltung nach einem Standsicherheitsnachweis monatelang nicht nachgekommen war. Der Hannoveraner befindet sich derzeit in Südamerika, unerreichbar für die Lüneburger Behörden. Hatte der Mann zunächst versichert, kooperativ zu sein, habe die Stadt seit Mitte vergangenen Jahres nichts mehr von ihm gehört. Und daher selbst die Dinge in die Hand genommen, juristisch gesprochen als sogenannte Ersatzvornahme.

Keine fünf Jahre ist es her, da wollte ein Investor auf einem benachbarten Grundstück noch einen Neubau mit Glasfassaden hochziehen, ein komplexes System aus hydraulischen Pressen und flexiblen Fugen sollten die angenommenen Senkungen auffangen. Der Baugrund sei "gut tragfähig", sagte der Gutachter 2008 bei einer Bürgerversammlung. Der Bereich sei zwischen 1946 und 2006 vergleichsweise geringfügig abgesackt. Anwohner hatten sich vehement gegen die Pläne gewehrt.

Zur Baugenehmigung kam es nicht, weil Unterlagen fehlten und es Umplanungen geben sollte. Ein Glücksfall. Waren die Fachleute bei ihren Berechnungen für den Neubau von 1,50 Meter Senkungen in den nächsten 50 Jahren ausgegangen, ist der Untergrund seit August 2009 jedoch doppelt so stark abgesackt wie in den Jahren zuvor, allein in den vergangenen 15 Monaten um 18 Zentimeter. Warum, weiß niemand. Die Stadt hat die Straße seit knapp anderthalb Jahren für Autos gesperrt und nimmt regelmäßige Messungen vor.

Das für den Neubau geplante Grundstück liegt seit gut einem Jahr brach, zuvor hatten junge Leute monatelang das leer stehende Einfamilienhaus darauf besetzt und mit Plakaten, Flaggen und Bannern gegen die Planung demonstriert. Vor knapp einem Jahr wurde das Haus geräumt und abgerissen, die Fläche eingeebnet.

Eine Bauvoranfrage desselben Investors für das Nachbarhaus auf der anderen Seite der Brache liegt auf Eis, zudem hat er den Abriss des Hauses Nummer 4 beantragt und den Mietern fristlos gekündigt. Trotz Stahlbetonplatte, Stahlankern sowie Holzstützen ist auch Nummer 4 nicht zu retten, so die Stadtbaurätin. Die für Haus 5 beauftragten Stützkonstruktionen würden jetzt zur Sicherheit der Mieter eingebaut - um einen geordneten Auszug zu gewährleisten. Dass nicht nur ihre Nachbarn sich zügig neue Wohnungen suchen müssen, wissen sie. Seit gestern.