Medizin: Todesursache menschliches Versagen - Eine traurige Bilanz. Der Dreijährige starb in einer Frankfurter Klinik, weil eine Schwester die falsche Infusion gab - wie im Fall von Baby Benjamin im Hamburger UKE.

Hamburg. Weine nicht an meinem Grab, denn ich bin nicht da. Ich bin der Schnee auf den Bergen, die Gischt auf den Wellen." Dennoch ist das kleine Grab auf dem Friedhof in Keitum irgendwie lebendig. Zwei rote und drei bunte Spielzeugautos parken, als ob ein kleiner Junge sie eben bewegt hätte. Bunte Sommerblumen recken ihre Hälse gen Himmel. Der schlichte Grabstein zeugt von einem viel zu kurzen Leben. "Dennis Hönscheid 1994-1997". Ein Kind zu verlieren ist das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann.

Ein Kind, das auf dem Weg der Gesundung ist, eine schwere Krankheit überstanden hat, zu verlieren, ist einfach unmenschlich und grausam. Wir reden hier über Kinder, die in einer Klinik gestorben sind, weil das Krankenhauspersonal Fehler machte. Inzwischen schätzt das Robert-Koch-Institut in Berlin nach Angaben der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", daß ca. 80 000 tödliche Fehler jährlich im Gesundheitswesen passieren. Damit gehören Fehler an Kliniken und Krankenhäusern zu den zehn häufigsten Todesursachen - noch vor Verkehrsunfällen und Brustkrebs.

Eine grausame Bilanz.

Und - leider wird aus Fehlern oft nichts gelernt. Dennis hätte nicht sterben müssen. Und Baby Benjamin (fünf Monate alt) aus Hamburg auch nicht. Dennis wurde wegen eines Gehirntumors in die Uniklinik Frankfurt eingeliefert. Benjamin wegen eines Herzfehlers in die Uniklinik Hamburg. Beide Kinder waren bereits überm Berg. Und beide Kinder starben an dem gleichen Fehler. Eine Krankenschwester verwechselte die Infusionen.

Dennis fiel 48 Minuten ins Koma. Er wurde wiederbelebt, vegetierte noch wenige Monate unter schrecklichen Qualen. Bei Benjamin kam jede Hilfe zu spät.

Wie die Eltern dieser Kinder fühlen, wird am Fall Hönscheid klar.

Noch heute fällt es Ute Hönscheid (50) schwer, über den Tod ihres Kindes zu reden. Sie kann weder Fotos von dem lieben Blondschopf sehen, noch an sein Grab gehen.

Glückliche Tage waren es damals, 1997 auf Fuerteventura, wo der Sylter Surfweltmeister Jürgen Hönscheid sein Sommerdomizil hat. Am 13. April feierte die Familie auf der Insel den dritten Geburtstag von Dennis. Ausgelassen tobte der Junge am Strand. "Nach drei Mädchen noch einen Jungen zu bekommen war für uns ein ganz besonderes Glück", sagt Ute Hönscheid. Wenige Tage später hieß es: Koffer packen. Die Sommermonate wollte die Familie wie jedes Jahr auf Sylt verbringen. Auf dem Flug nach Frankfurt mußte sich Dennis mehrmals erbrechen und bekam starke Kopfschmerzen. So stark, daß die Eltern direkt vom Flughafen in die Uniklinik Frankfurt fuhren.

Die niederschmetternde Diagnose: Dennis hat einen Hirntumor. Eine Operation ist unumgänglich.

"Ein Schock", sagt Jürgen Hönscheid. "Doch die Ärzte machten uns Hoffnung, daß Dennis nach der Operation wieder ein normales Kinderleben führen könne."

Am 26. Mai ist es soweit. Der bösartige Tumor wird zu 100 Prozent entfernt. Dennis erholt sich von dem schweren Eingriff erstaunlich schnell. "Er konnte seinen Schnuller nehmen und in den Mund stecken, Kinderpuzzles lösen, Kassetten in den Rekorder legen und auf Stop und Start drücken."

Er wird, erinnert sich die Mutter, sogar richtig böse, als sie ihm bei einer schmerzhaften Behandlung nicht beisteht. "Blöde Mama", schimpft er. Ute hätte vor Freude schreien können. Als sie ihm einmal sagt: "Du mußt nicht weinen", entgegnet er trotzig: "Ich will aber weinen."

Die Eltern sind überglücklich. In ihren Augen ist das der beste Beweis, daß ihr Junge auf dem Weg ist, wieder ganz gesund zu werden.

In der Nacht vom 28. Juni soll eine Nachtschwester dem Jungen eine Kalium- und eine Antibiotikum-Infusion legen. Die Schwester vertauscht die Infusionsgeräte.

Die Folge: Die Kalium-Infusion läuft mit einer viel zu hohen Geschwindigkeit ein. Üblich für Kalium wären 3 ml pro Stunde, der Tropf aber, für das Antibiotikum vorbereitet, war auf 80 ml pro Stunde eingestellt. Die Auswirkungen sind dramatisch. Dennis' Herz setzt aus, sein Gehirn bekommt nicht genug Sauerstoff. 48 Minuten reanimiert ein Arzt das Kind, bis sein Herz wieder aus eigener Kraft schlägt. Aber der Junge reagiert nicht mehr. Er ist ins Wachkoma gefallen. Wie es zu dem "Therapie-Zwischenfall", der aktenkundig wird, kommen konnte, ist für die Eltern klar. Jürgen Hönscheid: "In dem Zimmer war es dunkel. Die Lampe an Dennis' Bett war tagelang defekt. ,Machen Sie doch Licht', hatten wir die Schwester immer wieder aufgefordert. Ihre Antwort: ,Das geht schon.' Hinzu kam: Das Personal war überlastet. Die Schwestern hatten sich gegenseitig ausgeholfen."

Es folgen Wochen, in denen Dennis von unerträglichen Schmerzkrämpfen geschüttelt wird. Der kleine Körper biegt sich über die Seite durch, überstreckt sich nach hinten. So stark, daß man Angst hat, er würde jeden Moment durchbrechen. Das liebe Gesicht ist schmerzverzerrt. Dennis kann nicht schreien, hat kein Ventil, seinen Schmerz herauszulassen.

"Es gibt nichts Schlimmeres auf dieser Erde", sagt die Mutter, "als hilflos zusehen zu müssen, wie schrecklich unser Kind leidet. Wie gerne hätte ich Dennis' Leiden auf mich genommen. Ich wäre für ihn durch die Hölle gegangen. Ich wäre für ihn gestorben."

Als Dennis wenige Wochen später nach Sylt transportiert wird, schlummert er eines Morgens in den Armen seiner Mutter für immer ein. Sein schmerzverzerrtes Gesichtchen entkrampft. Im Tod findet das gequälte Kind Erlösung.

Nicht so die Eltern und die Geschwister. Für sie kommt es noch schlimmer: Die Klinik versucht den Fehler zu vertuschen. Akten verschwinden. Das Protokoll der Unglücksnacht ist nicht mehr auffindbar. "Ihr Kind wäre früher oder später sowieso an dem Tumor gestorben", versucht man den verzweifelten Eltern klarzumachen.

Moment mal, dachte Ute. Jetzt läuft etwas komplett falsch: Fehler sind menschlich, wenn auch tragisch. Aber sie nicht zuzugeben. Das geht gar nicht.

Nun werden die Eltern hellwach und kopieren alle Akten. Die Familie kann und will das Verhalten der Klinik nicht hinnehmen.

Ausgerechnet eine Krankenschwester ermuntert die Eltern, steckt ihnen heimlich einen Brief zu: "Ich arbeite seit 24 Jahren als Krankenschwester an vielen Kliniken. Ich kann die katastrophalen Zustände an deutschen Kliniken nur beklagen und nicht mehr ertragen. Ich kämpfe gegen meine Kollegen und Arbeitgeber für eine menschenwürdige, ehrliche und einfühlsame Beziehung zu Patienten und deren Angehörigen. Aus Sicht einer Krankenschwester kann ich Ihnen nur sagen, daß es vielfältige Ursachen für schwerwiegende Fehler an Patienten gibt. Einen großen Stellenwert nimmt das Mobbing ein.

Das Verhalten der Klinikleitung ist allgemein üblich und resultiert aus finanziellen Gründen."

Sieben Jahre prozessieren sie gegen das Krankenhaus - nicht wegen des Geldes, sondern damit die Klinik ihren Fehler zugibt und in der Folge alles tut, um anderen Menschen ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Sie plädieren für die Einführung einer Fehlerstatistik an deutschen Kliniken, wie es sie bereits im Ausland gibt. Sie gewinnen - nach sieben Jahren - den Prozeß. Dennoch freuen sie sich nicht.

"Es kann kein Happy End für uns geben", sagt Ute. Sie hat die 40 000 Euro Schmerzensgeld zu gleichen Teilen an die Krebsstation der Uniklinik Frankfurt und an die Sylter Klinik überwiesen.

"Wie gerne hätten wir Benjamin aus Hamburg mit dem Schicksal von Dennis gerettet", erklärt Ute Hönscheid. "Wäre der Fehler, der bei uns passiert ist, wenigstens klinikintern dem gesamten Fachpersonal zugänglich gemacht worden, wäre die Verwechslung im Hamburger Fall vielleicht nicht passiert.

Es ist höchste Zeit, daß alle Krankenhäuser und Kliniken an einem Strang ziehen.

Zumindest hat der Chef der Uniklinik in Hamburg Rückgrat gezeigt und den Fehler zugegeben. Das zeugt von Zivilcourage und ist ein Lichtblick in der ganzen Trauer.

Unsere Gedanken sind bei den Eltern von Benjamin. Wir beten für sie - und wünschen ihnen viel Kraft in ihrem unerträglichen Leid."

Christel Vollmer ist Co-Autorin des Buches "Drei Kinder & ein Engel" von Ute Hönscheid. Ein tödlicher Behandlungsfehler und der Kampf einer Mutter um die Wahrheit. Pendo München und Hamburg.*