Mediziner schlagen Alarm: Auffälligkeiten werden weiter zunehmen. Gravierende Probleme in Schule und Beruf sind die Folge.

Die Probleme sitzen tief. Denn wenn diese Zahlen stimmen, leiden nicht nur viele Kinder und Jugendliche an psychischen Störungen, vielmehr kränkelt ein beträchtlicher Teil unserer Gesellschaft. Jedes fünfte Kind in Deutschland habe "psychische Auffälligkeiten", weitere zehn Prozent sogar "deutlich erkennbar zutage tretende Störungen", sagt Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Uniklinikum Eppendorf (UKE). Er leitet die Jahrestagung seiner Fachgesellschaft, zu der bis Sonnabend 1500 Experten in die Uni Hamburg kommen. Es geht um Vorbeugung und Früherkennung psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

Die Bandbreite der Leiden ist groß. Vom "Zappelphilipp-Syndrom" ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Essstörungen bis zu Fettsucht, Schizophrenie und Autismus. Den unterschiedlichen Ursachen kommen die Forscher erst langsam auf die Spuren. Doch sicher ist: "Psychische Störungen beginnen im Gegensatz zu fast allen anderen komplexen Erkrankungen bereits früh im Leben", sagt Prof. Dr. Johannes Hebebrand aus Essen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Bei der Hälfte der Erwachsenen mit einer psychischen Störung gab es die ersten Symptome vor dem 14. Lebensjahr. Diese Erkrankungen seien die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit wie auch für hohe Fehlzeiten in der Ausbildung und in der Schule.

Wenn sich Kinder und Jugendliche in der Schule verweigern, sei dies oft "nicht einfach Unlust", so Hebebrand, sondern die Auswirkung einer psychischen Störung. Obwohl genaue Daten und eine fundierte Forschung über das Ausmaß fehlten, "wissen wir, dass die Bedeutung in Zukunft weiter zunehmen wird". Da gibt es die spektakulären Einzelfälle von Amok laufenden Jugendlichen, "die sich vorher mit Horrorvideos zugeknallt haben", so Hebebrand. Ein großes Behandlungsfeld sieht er bei Jugendlichen aus Migrationsfamilien, wo es zu psychosozialen Konflikten kommen könne, ein Problem vor allem in Großstädten. Erheblich sei die Dunkelziffer derer, die eigentlich eine fachliche Betreuung nötig hätten. Hebebrand geht von doppelt so vielen Betroffenen aus im Vergleich zu den tatsächlich diagnostisch und therapeutisch Versorgten. Experten rechnen damit, ergänzt Schulte-Markwort, dass bis 2020 international diese Erkrankungen im Kindesalter um mehr als 50 Prozent zunehmen und zu den fünf häufigsten Ursachen für Todesfälle und Beeinträchtigung der Lebensqualität zählen werden.

Die Fachmediziner halten engen Kontakt zu den Organisationen, in denen sich Betroffene und deren Angehörige austauschen. Da entsprechende Fachpraxen oft lange Wartezeiten haben oder in ländlichen Gebieten weit entfernt sind, suchen viele Eltern Rat bei Selbsthilfe-Vereinen. "Hat mein Kind wirklich ADHS?" ist eine der häufigsten Fragen beim Verein ADHS Deutschland. Oft machen Lehrer auf Probleme aufmerksam. Dann heißt es: Wo gibt es einen fachkundigen Arzt, der eine genaue Diagnose stellen kann? Etwa fünf Prozent der Kinder sind betroffen, sagt Myriam Menter, Vorsitzende von ADHS Deutschland, dem Verein, der dann weiterhilft (Tel.: 030/85 60 59 02, www.adhs-deutschland.de ).

Seltener sind Erkrankungen wie Autismus oder das Tourette-Syndrom mit Zuckungen oder Sprachaufälligkeiten. Die Betroffenen brauchen oft lebenslang Hilfe. Und Verständnis. "Viele schämen sich für ihr Leiden", sagt Michaela Flecken, die Vorsitzende der Tourette-Gesellschaft.