Epithesen sind künstliche Gesichtsteile, die für Patienten nach Unfällen oder bei angeborenen Fehlbildungen gefertigt werden. Das seltene Handwerk betreiben in Hamburg Zahntechniker.

Die ersten Wochen nahm Thorsten Schillinger seine neuen Ohren immer nur in der Pappschachtel mit. Was für die meisten Menschen vollkommen normal ist, war für den Studenten ungewohnt: am Kopf plötzlich zwei Ohren zu haben. 26 Jahre hatte er ohne sie gelebt. Sie waren von Geburt an nicht vorhanden. Der Hamburger hörte über ein Hörgerät, das an einer Brille befestigt war. Ein Gummiband um den Kopf hielt sie fest. "Optisch gesehen war ich eine Katastrophe mit langen Haaren und dem seltsamen Brillengestell", sagt Thorsten Schillinger heute. Seit nunmehr zwei Jahren trägt er modellierte Ersatzohren (Epithesen) aus Silikon und findet sich "äußerlich mindestens um hundert Prozent verbessert". Vor allem genießt der 28-Jährige es, nicht mehr angestarrt zu werden. Nur wer genau hinschaut, bemerkt eine feine Linie am Ohransatz, die den Übergang von der künstlichen zur natürlichen Haut markiert. Thorsten Schillinger trägt kleine Kunstwerke an seinem Kopf, die in stundenlanger Feinarbeit von der Epithetikerin Anja Kipf (32) hergestellt wurden. Sie ist gelernte Zahntechnikerin und arbeitet mit ihrem Chef, Stefan Leisner, als Epithetiker-Team bei der "Stemmann & Leisner Zahntechnik" in Hamburg. Es gibt keine Ausbildung für diesen seltenen Beruf, nur Fortbildungskurse. In Deutschland gibt es rund 25 Epithetiker, die entweder eigene Labore betreiben oder in einer Klinik arbeiten. Für diesen Berufszweig muss man handwerkliches Geschick mitbringen, eine künstlerische Ader haben und vor allem Einfühlungsvermögen. Zu Leisner und Kipf kommen Patienten mit angeborenen Fehlbildungen, nach einem Unfall oder einer Tumoroperation, wenn eine plastisch-chirurgische Rekonstruktion im Gesicht unmöglich oder nicht gewollt ist. "Ich muss mich immer wieder ganz auf den Patienten einstellen, manche sind verstört und verzweifelt, andere froh, dass ich überhaupt helfen kann", sagt Leisner. Er versucht, ein Ohr, Nasen- oder Augenteil so echt wie irgend möglich nachzumachen. Die Epithesen werden am Kopf mit Magneten befestigt. Dazu bohrt ein Gesichtschirurg nach Absprache mit dem Epithetiker zwei bis drei Löcher in Nasenbein, Stirn- oder den Ohrknochen und implantiert dort Titanschrauben. Wenn diese nach vier Monaten festgewachsen sind, wird ein Magnet eingeschraubt, zwei Wochen abgewartet und dann nimmt Stefan Leisner einen Abdruck der Stelle mit den Implantaten. Aus hautfarbenem Wachs modelliert der Epithetiker die Gesichts- oder Ohrprothese, die er dem Patienten anprobiert und gegebenenfalls korrigiert. "Wenn möglich, habe ich Fotos vor mir liegen, wie der Patient früher aussah. Oder ich nehme das gesunde Ohr als Vorlage. Dabei muss ich mir das Gesichtsteil immer dreidimensional vorstellen", sagt der 39-Jährige. Bei einem Patienten wie Thorsten Schillinger, der keine Ohren hatte, orientiert sich der Epithetiker an der Gesichts- und Körperform. Schon beim Wachsohr beachtet Leisner die Licht- und Schatteneffekte, beim Auge arbeitet er kleine Fältchen ein, bei der Nase Poren und Höcker. Auch Luftwege oder der Gehörgang sind schon Teil des Wachsmodells. Die Wachsform umschließt er mit Gips und erhält so einen Negativabdruck des Gesichtsteils. Das Wachs erhitzt und entfernt er. In die Gipsform gießt Leisner dann flüssiges Silikon, das er mit einer Grundfarbe angemischt hat. "Wir haben unterschiedliche Farben für jeden Kontinent: Es gibt drei Schattierungen für europäische Haut, zwei für asiatische und drei für afrikanische", erklärt er. Unter Druck und durch Hitze vulkanisiert er das Silikon und erhält seine weiche, dehnbare Form, die sich fast wie echt anfühlt. In einer weiteren Sitzung legt der Epithetiker mit dem Patienten das endgültige Aussehen der Prothese fest. "Dann arbeite ich die Spuren des Lebens ein", sagt Stefan Leisner fast philosophisch. Mit Farbe trägt er Sommersprossen, Altersflecken und Äderchen auf die Epithese auf. Bei einer Augenprothese schiebt er mit einer feinen Nadel die Wimpern und Augenbrauen in das Silikon. 35 bis 40 Stunden Arbeit steckt er in eine Ohr- oder Nasenepithese, bei einem Augenersatz dauert es noch länger. Von der Krankenkasse bekommt er dafür zwischen 4000 und 6000 Euro (für ein Ohr oder Nase), ein Auge ist noch mal zwei- bis viertausend Euro teurer. Fast 50 Prozent der Kosten entfallen auf das Material. Dieses ist nicht dauerhaft haltbar. Daher müssen Epithesen alle zwei bis drei Jahre wieder neu gefertigt werden.