Wissenschaftler, die ergründen, wie Staus entstehen, halten nichts vom Vorschlag des Verkehrsministers. Sie fordern stattdessen moderne Verkehrs-Lenkungssysteme.

Jeder Deutsche steht, statistisch gesehen, jedes Jahr 70 Stunden im Stau; täglich werden geschätzte 30 Millionen Liter Benzin und Diesel mehr verbraucht, weil der Straßenverkehr stockt. Von den 12 300 Autobahn-Kilometern in Deutschland gelten 2500 Kilometer als besonders stauanfällig, so Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). Sein aktueller Vorschlag für besser fließenden Verkehr: den Lastwagen das Überholen generell zu verbieten. Doch Experten reagieren skeptisch.

"Ein Lkw-Überholverbot ist nicht die Lösung der Probleme. Es gibt schon heute in vielen Bundesländern Überholverbote, dennoch treten dort Staus auf. Die Elefantenrennen können zwar an den Nerven der Pkw-Fahrer zerren, aber bei Tempo 80 bringen sie den Verkehr nicht zum Erliegen", sagt Prof. Michael Schreckenberg, Verkehrsforscher an der Uni Duisburg-Essen. 1997 übernahm der Physiker dort die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr. Seitdem arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen und formulierte mit dem Festkörperphysiker Kai Nagel das Nagel-Schreckenberg-Modell. Das mathematische Formelsystem, das den Zusammenhang zwischen Dichte und Fluss im Straßenverkehr verblüffend wirklichkeitsgetreu beschreibt, räumte mit dem Mythos auf, Staus entstünden aus dem Nichts. "Staugefahr besteht, wenn das erste Auto in einer langen Kette langsamer als 30 km/h fährt. Bremst es dann aus irgendeinem Grund ab und bleibt stehen, ist ein Stau unausweichlich. Das ist einfache Physik", so der Verkehrsexperte. "Denn zum Anfahren braucht der Fahrer zwei Sekunden, doch von hinten kommt nahezu jede Sekunde ein Auto." Diese eine Sekunde, die zwischen dem Anfahren und dem Auffahren liegt, löse eine Stauwelle aus, die sich mit einer Geschwindigkeit von 15 Kilometern pro Stunde rückwärts über die Autoschlange ausbreitet. Sie verebbe erst, wenn kein Fahrzeug mehr folgt.

Der Wissenschaftler steht dem Überholverbot für Brummis noch aus einem anderen Grund skeptisch gegenüber. "Wer Lkw auf die rechte Spur verbannt, riskiert, dass sich an den Auffahrten der Autobahnen Staus bilden. Viele Autofahrer zögern, auf die Autobahn zu fahren, wenn Lkw auf Lkw folgt", so der Verkehrsexperte.

Ein Überholverbot für Brummis wird zudem Pkw-Fahrer nicht abhalten, die linke Spur - die eigentlich nur zum Überholen gedacht ist - zu besetzen, sobald am Horizont ein Brummi erscheint.

"Überholverbote können nur sinnvoll sein, wenn sie intelligent, das heißt dem Verkehrsaufkommen angemessen, verhängt werden. Warum sollen alle Lkw rechts fahren, wenn nichts los ist? Das bringt nur neue Probleme", warnt Schreckenberg. Er rät, zunächst die Informations- und Erfassungssysteme bundesweit zu vereinheitlichen. Für einen Autofahrer sei es unerheblich, wie lang ein Stau ist. Wichtig sei, wie lange er in ihm stehen wird und ob es zeitsparende Alternativen gebe. Dann könne er den Stau umfahren und nicht weiter zu ihm beitragen. Eine einheitliche Erfassung von Staus sei auch wichtig für Straßenbauer. Ein planloser Ausbau helfe nicht gegen Staubildung, vielmehr müssten Engpässe gezielt beseitigt werden. Abhilfe könnten Anlagen zur Verkehrsbeeinflussung schaffen, die vor Stau, Nebel, Glatteis und Unfällen warnen und Tempolimits verkehrsangepasst festlegen. "Die Technik ist gut, doch sie nützt nur, wenn der Fahrer, egal in welchem Auto, sie auch nutzt", weiß Schreckenberg. Denn wichtiger als jede Technik sei, dass die Fahrer selbst dazu beitragen, den Verkehr im Fluss zu halten. Häufiges Abbremsen, Beschleunigen, abrupte Spurwechsel seien Gift für den rollenden Verkehr.

Vielleicht würden sich in Zukunft gar keine Staus mehr bilden, weil es wieder weniger Autos gebe. Angesichts der ständig steigenden Spritpreise sei das keine Utopie.