Schon 1894 gründete die Mormonen-Kirche ein Genealogie-Archiv. Heute ist diese Datensammlung der “Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ die größte ihrer Art.

Salt Lake City. Little Cottonwood Canyon, 40 Kilometer südöstlich von Salt Lake City: Hier, inmitten der Rocky Mountains, lagern über 2,5 Millionen Mikrofilmrollen. Die Berge um das Zentrum der Mormonen sind ein beliebtes Ausflugsziel bei Skifahrern und Wanderern. Doch kaum jemand weiß, dass sich hier im Granite Mountain eine weltweit einzigartige Lagerungsstätte zur Ahnenforschung befindet.

Verschlossen durch eine 14 Tonnen schwere Stahltür lagern in einem Bergstollen die Namen von über drei Milliarden Menschen. Gesichert auf Mikrofilm, geschützt vor saurem Regen und radioaktiver Strahlung hilft diese weltweit größte Namensammlung Wissenschaftlern und Hobbygenealogen aus aller Welt bei ihren familienkundlichen Forschungen.

Ein gelblich gestrichener, über 200 Meter langer, erdbebensicherer Tunnel führt in den Granitberg. Tausende von Archivkästen stehen hier, in denen das Filmmaterial aufbewahrt wird. Bei 16 Grad Celsius und 30 Prozent Luftfeuchtigkeit. Sommer wie Winter. Geschützt in sechs unterirdischen Gewölberäumen.

Fast alle europäischen Länder sind im Rahmen der Haager Konvention für Kulturgutschutz dabei, eigene nationalbedeutsame Archivbestände auf Sicherungsfilm für die Nachwelt zu übertragen. Doch bis auf Deutschland und die Schweiz gibt es keine Institution weltweit, die über eine unterirdische Lagerungsstätte verfügt - mit Ausnahme der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage". So nennt sich die Religionsgemeinschaft offiziell.

1894 wurde das Genealogie-Archiv der Mormonen-Kirche gegründet. Heute enthalten die gelagerten Mikrofilme die Daten von Verstorbenen, die vor 1930 gelebt haben. Drei Milliarden Namen aller Nationalitäten hat man zusammengetragen. Von Kindern, Frauen und Männern jeden Alters und jeder Religionszugehörigkeit. Was der Freiburger "Barbara-Stollen" mit seinen mikroverfilmten Dokumenten für die deutsche Geschichte ist, das ist das Namen- und Ahnenregister der Mormonen für die Ahnenforschung. "Wenn man nach seinen Vorfahren forscht, findet man einen Halt, und man weiß, dass man ein Teil dieser Welt ist", sagt Tab Thompson vom Familiensuch-Zentrum in Salt Lake City voller Überzeugung. Seit 22 Jahren arbeitet Thompson als Genealoge in Salt Lake City.

Über seine eigene Kindheit weiß der gottesfürchtige Mormone nur wenig. Er wurde vermutlich in Deutschland geboren, seine Mutter sei wahrscheinlich eine Serbin gewesen, glaubt Thompson. Dann verlieren sich die Spuren seiner Eltern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben ihn US-amerikanische Mormonen adoptiert. Heute steht die Ahnenforschung für die Kirche Jesu Christi im Zentrum seines Lebens. Thompson glaubt wie alle ihre Anhänger, dass er seine Vorfahren nach dem Tod wiedertreffen wird: "Je mehr wir über unsere Familie wissen, um so besser werden sie verstehen, wie das alles auf lange Sicht funktioniert."

Seit 1938 hat die Religionsgemeinschaft in über 110 Ländern genealogische Quellen kopiert, gesammelt, ausgewertet und mikroverfilmt - darunter Geburts-, Heirats- und Todesurkunden, Volkszählungsergebnisse, Gerichtsprotokolle, Eigentümerverzeichnisse, Erbbestätigungen, Ein- und Auswandererlisten sowie Familien- und Stadtchroniken. Auch in Deutschland sei das mit großem Erfolg gelungen, sagt Thompson: "Wir verhandeln mit den zuständigen Behörden - seien es Archivare oder Regierungsstellen. Wir gehen los, prüfen das vorhandene Material und entscheiden, was von genealogischem Wert ist. Dann unterbreiten wir Vorschläge für einen Vertrag, damit wir diese Daten übernehmen können. Wenn das akzeptiert wird, schicken wir unsere Leute mit Mikrofilmkameras und fotografieren die Informationen."

Damit diese Milliarden gespeicherter Daten im Falle einer Katastrophe erhalten bleiben, wurde der unterirdische Granite Mountain Vault Anfang der sechziger Jahre in den Berg getrieben - zur Einlagerung der Sicherungsfilme. Sechs Jahre dauerten die aufwendigen Bauarbeiten. Finanziert von den Mitgliedern der Mormonen-Kirche, deren Anhänger zehn Prozent ihres Gehalts abgeben. "Unsere Aufgabe ist es, Menschen den Zugang zu genealogischen Informationen zu ermöglichen", sagt Thompson, "dann können wir ihnen erklären, was es heißt, wenn ihr Urururgroßvater ein Schornsteinfeger war. Mit unserer Hilfe werden die Vorfahren lebendig, auch wenn sie schon seit Generationen oder Jahrhunderten tot sind."

Hier, in Salt Lake City, der Stadt mit dem sechstürmigen Tempel, dem runden "Tabernacle", in dem der weltberühmte Chor der Mormonen zu Hause ist, schlägt das religiöse und politische Herz der Kirche. 80 Prozent der etwa Million Einwohner gehören der Kirche Jesu Christi an. Den Mormonen gelten die Familienbeziehungen als heilig. Konservativ und leistungsorientiert ist die Religionsgemeinschaft. Die Vielweiberei hat die Kirche seit 1890 unter Strafe gestellt, aber inoffiziell wird sie von manchen Mormonen weiterhin betrieben. Homosexuelle Partnerschaften, Abreibungen, vor- und außereheliche Sexualität lehnt die "Church of the Latter-Day Saints" ab. Viele Mormonen arbeiten an den Schaltstellen der Macht - in Politik, Wirtschaft und beim US-Geheimdienst CIA.

Die Archive und Dokumente der Mormonen allerdings stehen jedem offen, der nach den genealogischen Wurzeln seiner Familie sucht - unabhängig davon, ob es sich um Mormonen, Christen, Moslems oder Hindi handelt. Die meisten Anfragen kommen aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und den skandinavischen Ländern, erzählt Bärbel Bell vom Familiensuch-Zentrum. "Für mich ist das eine Detektivarbeit. Wenn sie jemanden gefunden haben, dann können die nicht aufhören".

Die in Kiel geborene Genealogin ist daran interessiert, dass so viele Menschen wie möglich die Archivbestände nutzen können. Deshalb denkt man darüber nach, "etwas ähnliches zu erstellen wie Wikipedia, um Urkunden und anderes genealogisches Material zur Verfügung zu stellen."

Die Datenrecherche ist derzeit kostenlos. Gegen eine geringe Bearbeitungsgebühr wird Menschen aus der ganzen Welt Auskunft über ihren familiären Stammbaum gegeben - ohne Missionierungsabsicht, wie die Religionsgemeinschaft versichert. Gleichwohl gilt Kritikern ihre Ahnenforschung und Missionarstätigkeit als suspekt.

Etwa vier Prozent der mikroverfilmten Daten sind bislang digitalisiert worden. Der Rest wird von den über 120 Mitarbeitern recherchiert - für all jene, die auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln sind: Auswandererkinder, Waisen oder Gemeinden, denen ihre Kirchenbücher verloren gegangen sind. Knapp 2000 Menschen kommen täglich in das Familiensuch-Zentrum, das sich in der Innenstadt am Tempelsquare befindet.

Tab Thompson hat für das große Interesse eine einfache Erklärung: "Wenn wir eine starke Familie haben, dann haben wir auch eine starke Nation", sagt er. "Und wenn wir eine starke Nation haben, dann haben wir eine starke Welt mit mehr Frieden, weil jedem klar wird, dass wir uns alle doch ähnlich sind."