Papyrus-Fund: Führende Kirchenhistoriker sind überzeugt, daß die Bibel neu interpretiert werden muß. Das Dokument aus dem 3./4. Jahrhundert, welches als “Das Evangelium des Judas“ bezeichnet ist, behauptet: Jesus selber gab seinem Jünger die Weisung, ihn an seine Häscher auszuliefern.

Hamburg. Du Judas, du! Welch abgrundtiefe Abscheu steckt in diesem Namen, welche Verachtung, geballt in fünf simplen Buchstaben. Wer käme heute noch auf die Idee, sein Kind Judas zu nennen? Vor 2000 Jahren, zu Lebzeiten Jesu, war das anders. Damals galt Judas als beliebter Name. Allein zwei Apostel heißen so. Der eine trägt den Beinamen Thaddäus. Aber der andere, der berüchtigte Judas Ischariot - der Mann aus Kariot, einem Dorf in Judäa - ist ebenjener, der diesen Namen ein für allemal verdorben hat - mit einer Urgewalt, die auch heute noch, zwei Jahrtausende später, spürbar ist. Denn Judas ist der Verräter schlechthin. Der Mann, der nur aus Habgier für den "Judaslohn" von 30 Silberlingen seinen Herrn, den Gottessohn, verraten hat und den Verrat mit einem Kuß (!) besiegelt im Garten Getsemane, am Fuß des Ölbergs in Jerusalem.

Ist dieses Bild nur Lug und Trug? War Judas gar kein Schurke und Verräter? War er statt dessen Jesu treuester Jünger? Der einzige, der ihn verstand? Der nicht perfide handelte, sondern als einziger der Jesu-Getreuen die Lehre seines Meisters voll begriff? Und der nur auf Jesu Weisung handelte, als er ihn den Verfolgern überließ, und er am Kreuz sterben konnte?

Genauso überraschend steht es auf den brüchigen Papyrusblättern der Antike, die Wissenschaftler jetzt akribisch untersucht haben, unterstützt von der Zeitschrift "National Geographic", die in ihrer deutschen Mai-Ausgabe ausführlich darüber berichten wird und die gestern Details der Forschungsarbeit vorstellte.

Beteiligt an der Prüfung des antiken Textes waren Gelehrte der im Ägypten des dritten Jahrhunderts verbreiteten koptischen Sprache, in der die Schrift verfaßt ist, außerdem Ägyptologen, Neutestamentler und Experten für Kirchengeschichte. Sie alle haben den Kodex unter die Lupe genommen und die Echtheit mit Hilfe naturwissenschaftlicher Technik vielfach bestätigt, bis zur letzten Zeile, die da reißerisch lautet: "Das Evangelium des Judas".

Das klingt wie eine Provokation. Und provozieren wollte der Verfasser des Manuskriptes, das zwischen 220 und 340 nach Christus entstand. Die aufregenden Thesen vom treuen Judas müssen sogar noch Jahrzehnte älter sein. Denn bereits um 180 nach Christus erwähnt Irenäus, der Bischof von Lyon, das Judas-Evangelium und warnt vor der Lektüre dieser Irrlehre in seinem Werk "Gegen die Häresie". Den Anhängern warf Irenäus vor: "Sie haben eine fiktive Geschichte erschaffen, die sie das Evangelium des Judas nennen."

Der Inhalt paßte den ersten Kirchenvätern nicht ins Konzept. Damals wählten sie die Texte aus, die heute das Neue Testament bilden, zum Beispiel die Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Die Existenz des abtrünnigen Judas-Evangeliums und mit ihm der Versuch, den verschrienen Verräter moralisch reinzuwaschen, war also schon in früher Christenheit bekannt. Allerdings kannte kein Wissenschaftler der Moderne den genauen Wortlaut. Das hat sich jetzt geändert.

Und dieser Inhalt hat an Brisanz bis heute nichts verloren. So steht in dem Papyrus, Jesus habe Judas aufgefordert: "Du mußt den Menschen opfern, der mich umhüllt." Der wahre Jesus sei die Seele, die leibliche Hülle dagegen ein Werk "widergöttlicher Mächte". Was sagen Theologen heute dazu?

"Judas befreite Jesus, indem er ihn auslieferte", meint der niederländische Kirchengeschichtler Hans van Oort, Professor an der Radboud-Universität in Nimwegen. Auch das in der Bibel gebrauchte griechische Wort für "aushändigen" oder "übergeben" werde nur in Verbindung mit Judas "verraten" übersetzt. "Wenn man das Judas-Evangelium liest, versteht man, daß dies nicht mehr aufrechtzuerhalten ist", glaubt Oort.

Andere Bibelwissenschaftler widersprechen dieser Aufassung, zum Beispiel der in Wuppertal lehrende Professor für Biblische Theologie, Thomas Söding, der auch der Päpstlichen Bibelkommission angehört. Er bewertet das restaurierte und erstmals übersetzte "Judas-Evangelium" zwar als "religionsgeschichtlich interessant, aber nicht sensationell". Der Text biete keine neuen historischen Einsichten über den Apostel Judas oder den Kreuzestod Jesu. Er belege lediglich "eine Facette der Frömmigkeit im 3./4. Jahrhundert innerhalb der religiösen Bewegung der Gnosis".

Für die Gnostiker, eine Strömung in der religiösen Vielfalt des römischen Reiches, war Jesus nicht wie nach christlichem Verständnis "wahrer Mensch und wahrer Gott". Für sie sei Jesus auch auf Erden Gott gewesen, nur gekleidet in eine menschliche Hülle. Deshalb sprachen die Gnostiker von einer Schein-Kreuzigung, bei der der göttliche Jesus sich seiner menschlichen Hülle entledigt habe. Und den Verrat durch Judas hätten sie konsequenterweise positiv umgedeutet. Söding: "Diese gnostische Sichtweise ist nicht neu, sie ist aber bislang nirgends so zugespitzt gefunden worden wie in dem Judas-Evangelium."

Das ungewöhnliche Buch war die "Bibel" der Kainiten, einer gnostischen Splittergruppe aus dem zweiten Jahrhundert. Ihr Name leitet sich von dem zweiten biblischen Bösewicht ab, den sie verehrten: Kain, der Sohn von Adam und Eva, der seinen Bruder Abel erschlug.

Die positive Judas-Version könne man zum Anlaß nehmen, die "tiefsitzende Gleichsetzung des verräterischen und habgierigen Judas mit dem ,Juden schlechthin' zu überwinden", regt Gregor Wurst an, Professor für Kirchengeschichte an der Uni Augsburg. Andere Experten sehen laut "National Geographic" in dem Fund "ein großes Ding", so Bart Ehrman von der Princeton-Universität. Seine Kollegin Elaine Pagels meint sogar, die Schrift "verändert unser Wissen über die frühen christlichen Gemeinschaften".

Die waren jedenfalls geprägt von einer verwirrenden Vielfalt religiöser Strömungen, aus denen die christliche Kirche ihre Wurzeln bildete. So stellte der mächtige Bischof von Alexandria, Athanasius, im Jahr 367 für die Christen in Ägypten eine Liste mit 27 Texten zusammen, die als heilig eingestuft wurden. Sie bilden bis heute das Neue Testament. Darunter sind auch die schon von Irenäus ausgesuchten Evangelien. Viele andere Schriften gingen, ebenso wie der Judas-Text, damals verloren.

Der Codex enthält außer dem Judas-Evangelium noch einen Brief von Petrus an Philippus und eine Vision über das Weltende ("Apokalypse") des Jakobus, die aber bereits aus anderen Texten bekannt waren. Denn dies ist nicht der erste spektakuläre Fund aus der frühen Christenheit. 1945 hatten ägyptische Bauern bei Nag Hammadi hüfthohe Tonkrüge ausgegraben mit verschollenen Texten der Lehren Christi.

Wo genau das jetzt Furore machende Dokument herstammt, ist unklar. Seine Fundgeschichte sei ein "Schwachpunkt", meint Söding. Die 26 Seiten des 29 mal 15,5 Zentimeter großen Manuskripts sollen bereits in den 1970er Jahren gefunden worden sein in einem Gebiet am Nil, 150 Kilometer südlich von Kairo nahe der Stadt Al-Minya. Auf undurchsichtigen Umwegen gelangten sie aus Ägypten über die USA 2002 in den Besitz der Schweizer Maecenas-Stiftung für antike Kunst (siehe Text unten links auf dieser Seite).

Dabei hatten die antiken Blätter stark gelitten. "Das Manuskript war so brüchig, daß es bei der geringsten Berührung zerbröselte", sagte Prof. Rodolphe Kasser, ein Experte für koptische Texte, der seit drei Jahren die Übersetzung und Veröffentlichung mit vorbereitet hat.

Nach der Übersetzung und Restaurierung soll die Schrift nach dem Willen der Stiftung dem ägyptischen Staat für das Koptische Museum von Kairo übergeben werden. Auf diese Weise wird auch ein Rechtsstreit über den wahren Eigentümer vermieden. Denn seit 1980 ist der Besitz unregistrierter Antiquitäten oder deren Export verboten.