Berlin. Ein neu entdecktes Gen macht Keime immun gegen ein wichtiges Notfall-Antibiotikum. Die Wissenschaftler sind besorgt.

Droht den Menschen eine Ära, in der Antibiotika nicht mehr wirken? Ein neuer Fund lässt dies befürchten. Chinesische Forscher entdeckten im November 2015 ein Gen, das Keime gegen ein wichtiges Notfallantibiotikum immun macht. Jetzt wurde das Gen auch bei einer menschlichen Probe in Deutschland nachgewiesen.Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) spricht zudem von einer weiten Verbreitung dieser resistenten Keime in deutschen Nutztierbeständen. Die Wissenschaftler sind besorgt.

Wie entstehen Resistenzen?

Ursache einer Resistenz sind Gene im Erbgut der Bakterien. Diese können durch natürliche Mutation entstehen. Bakterien können mehrere Resistenzgene aufnehmen, die sie gegen verschiedene Antibiotika schützen – so entstehen mehrfach-resistente Keime. Es gibt grob gesagt zwei Arten von Bakterien – grampositive und -negative. Beide haben gefährliche Resistenzen entwickelt, gegen die nur noch Reserveantibiotika helfen.

Bei durch resistente Enterobakterien, etwa Salmonellen, verursachten Krankheiten setzten Ärzte bislang das Notfallantibiotikum Colistin ein, entwickelt schon in den 1960er-Jahren. „Bei Menschen wurde es lange extrem selten eingesetzt, weil es starke Nebenwirkungen hat, es gab bessere Alternativen. Doch die Resistenzen haben sich mittlerweile so entwickelt, dass man gezwungen war, es wieder häufiger einzusetzen“, sagt Dr. Can Imirzalioglu, stellvertretender ärztlicher Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Gießen. Doch dieser Ausweg könnte in Zukunft blockiert sein.

Warum ist der neue Fund so brisant?

Imirzalioglus Team wies jetzt gemeinsam mit Wissenschaftlern des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) in Bakterien aus einer menschlichen Probe ein Gen nach, das Keime auch gegen Colistin resistent macht. Es ist das gleiche, das auch chinesische Forscher im November entdeckten. Besonders alarmierend: Bakterien können das sogenannte Gen MCR-1 unabhängig von ihrer Art untereinander weitergeben. Das ist neu.

„Ohnehin multiresistente Keime können auf diese Weise noch eine zusätzliche Resistenz erwerben“, sagt Imirzalioglu. Darüber hinaus wies die Probe der Gießener Wissenschaftler auch eine Resistenz gegenüber sogenannten Carbapenemen nach – Breitbandantibiotika, die als Vorstufe von Colistin eingesetzt werden. „Wenn sie unwirksam werden, kommt Colistin als letzte Reserve zum Einsatz“, so die Gießener Forscher, „besteht auch dagegen eine Resistenz, kann eine ausweglose Situation ohne Behandlungsoption entstehen“.

Wie wirkt das Gen MCR-1 und wie gefährlich sind betroffene Keime?

„Durch das Gen verändert sich die Oberflächenstruktur der Zellmembran der Keime“, erklärt Imirzalioglu. Die Struktur benutze das Antibiotikum normalerweise um anzudocken. Ist diese verändert, kann es nicht mehr greifen. „Das Gen MCR-1 tragen mehrheitlich harmlose Darmkeime“, sagt der Mikrobiologe. Doch wenn diese Keime an Stellen gelangen, wo sie nicht hingehören – zum Beispiel werden Harnwegsinfektionen häufig durch Darmbakterien ausgelöst – „dann können sie gefährlich werden“. Auch wenn Patienten generell mit Antibiotika behandelt würden, könnten sie für resistente Keime empfindlich werden. „Denn alle anderen Keime werden durch die Mittel abgetötet, die resistenten Keime bleiben jedoch und können sich dann umso besser vermehren.“

Wie verbreitet sich das MCR-1-Gen?

Momentan wohl vor allem über den starken Einsatz in der Nutztierhaltung. „In der Humanmedizin wird Colistin nur im Krankenhaus eingesetzt“, sagt Imirzalioglu. Aber in der Tiermast kommen nach Angaben des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit jährlich bis zu 125 Tonnen zum Einsatz – „vor allem zur Behandlung von Darmerkrankungen“, so das BfR. Nach aktuellen Recherchen der Umweltorganisation Germanwatch erfolgt bei Milchkühen jede zehnte Behandlung mit den wichtigen Reserveantibiotika. Die Tiere scheiden die Keime aus, beim Schlachten können sie auch auf das Fleisch gelangen, das zum Verzehr in den Verkauf geht.

Für wen sind multiresistente Keime besonders gefährlich?

„Für Kranke und Immunschwache wie Senioren sind multiresistente Keime besonders gefährlich“, sagt Dr. Caroline Isner von der Medizinischen Klinik für Infektiologie der Berliner Charité. Auch immungesunde Menschen seien oft von resistenten Keimen besiedelt, nur richteten diese keinen gesundheitlichen Schaden an. Besonders brisant ist der neue Fund für Krankenhäuser. Laut Bundesgesundheitsministerium infizieren sich pro Jahr 400.000 bis 600.000 Patienten mit Keimen infolge einer medizinischen Behandlung. Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) spricht von bis zu einer Million. Auch die Angaben über die Zahl der Sterbefälle variiert – 10.000 bis 15.000 sagt das Gesundheitsministerium, bis zu 40.000 die DGKH.

Wie will Deutschland dem Problem begegnen?

Durch den Austausch von Waren oder das Reisen verbreiten sich resistente Keime weltweit. Das Problem kann national kaum kontrolliert werden. Deshalb arbeiten die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Europäische Union aber auch die Nationalstaaten weltweit an Gegenmaßnahmen.

Das deutsche Konzept heißt „Dart 2020“ und ist verknüpft mit dem „Globalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Antibiotika-Resistenzen“ der WHO. Beide setzen im Wesentlichen auf vier Säulen: Weniger Antibiotikaeinsatz in Human- und Tiermedizin, Aufklärung der Patienten über den sachgemäßen Gebrauch, verbesserte Hygiene in der Medizin und die Entwicklung neuer Medikamente. „Es werden viele Anstrengungen unternommen, Ärzte und Patienten zu schulen“, sagt Caroline Isner. Sie ist optimistisch, dass Einnahme und Verschreibung von Antibiotika in der deutschen Humanmedizin gesenkt werden können. „Die Menschen haben mittlerweile verstanden, dass ein Überfluss an Antibiotika zu Resistenzen führt.“ 80 Prozent der Antibiotika werden ambulant verschrieben.

Auch in der Tiermedizin tut sich etwas: 2014 wurden 1238 Tonnen Antibiotika eingesetzt, 214 Tonnen weniger als 2013 und 468 Tonnen weniger als 2011.

Skeptischer ist Caroline Isner, was die Entwicklung neuer Medikamente angeht. Es könne bis zu acht Jahre dauern, bis diese zugelassen seien. Laut Verband der forschenden Pharmaunternehmen kamen von 2001 bis 2010 acht neue Antibiotika auf den Markt, die entwickelt wurden mit dem Ziel, Resistenzen zu überwinden. Bis 2020 sollen zehn weitere folgen.