Berlin/Hamburg. Experten erwarten Kostenexplosion im Gesundheitswesen wegen geburtenstarker Jahrgänge. Volkswirtschaftliche Konsequenzen erwartet.

Die Babyboomer kommen in die Jahre. Sie sind jetzt 50, 55 Jahre alt und stehen gewissermaßen vor den Türen der orthopädischen Praxen. Je nach Schicksal und Lebenswandel stellen sich die ersten Schäden an Gelenken, Muskeln und Knochen ein, sagt Professor Michael Nerlich. Der Regensburger Mediziner ist Präsident des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie, der zurzeit in Berlin stattfindet. Und weil diese Generation so viele Köpfe zählt, spricht Nerlich von einem „Baby-Boomer-Tsunami“, der über das deutsche Gesundheitswesen zu fegen droht. „Denn viele von ihnen waren nicht besonders bewegungsaktiv. Sie haben jetzt Zivilisationskrankheiten. Damit müssen wir fertig werden.“

Das wird volkswirtschaftliche Konsequenzen haben, sagt der Experte. Bereits heute binden die Behandlung und Rehabilitation von Krankheiten des Knochen- und Muskelapparates wie etwa chronische Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfälle und Arthrose viele Ressourcen. Die Krankheiten von Muskeln und Knochen sind der größte „Brocken“ im ganzen Gesundheitswesen und verbrauchen heute 16 Prozent der direkten Heilkosten. Rechne man die indirekten Kosten hinzu – etwa durch Arbeitsausfälle und Frühverrentung – sind es gar 40 Prozent, sagt Nerlich.

Laut der Deutschen Arthrosehilfe haben zurzeit bereits mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland ein künstliches Gelenk. Jährlich werden danach etwa 200.000 künstliche Hüftgelenke, 150.000 Knieendoprothesen sowie 12.000 künstliche Schultergelenke eingesetzt.

Nun kommen also zunehmend die Babyboomer zu den Orthopäden. „ Die Degeneration der Gelenke nimmt ab dem Alter von 60 Jahren stark zu“, sagt Prof. Thorsten Gehrke, Ärztlicher Direktor der Hamburger Helios-Endoklinik, in der in diesem Jahr nach aktuellen Hochrechnungen etwa 2500 Patienten eine neue Hüfte und 2000 ein neues Kniegelenk erhalten.

Bundesweit sei die Zahl der Operationen beim Gelenkersatz an Knie und Hüfte seit vier bis fünf Jahren konstant. Gehrke geht davon aus, dass diese Eingriffe mit den geburtenstarken Jahrgängen zunehmen werden. Mögliche Einsparpotenziale sieht der Chirurg kritisch: „Wir in Deutschland haben schon die niedrigsten Preise für die besten Implantate im internationalen Vergleich und die niedrigsten Fallpauschalen für die Behandlung. Ich sehe auch kein Einsparpotenzial darin, die Indikation einzuschränken und weniger Menschen zu operieren.“ Die Indikation bezeichnet die Beschwerdebilder, für die eine bestimmte Therapie angezeigt ist. „Wir operieren schon jetzt nur die Patienten, bei denen es auch wirklich erforderlich ist“, sagt Gehrke. Er hat auch noch eine andere Entwicklung beobachtet: „Es besteht der Trend, dass wir immer jüngere Patienten versorgen. Das Durchschnittsalter der Patienten ist jetzt 64 Jahre. Früher waren unsere Patienten im Durchschnitt 68 Jahre alt.“

Auf dem Kongress werden verschiedene Möglichkeiten der Kostenbegrenzung diskutiert. „Wähle weise – gemeinsam klug entscheiden“ heißt ein Projekt, das auf dem Berliner Kongress der Orthopäden und Unfallchirurgen diskutiert wird. Fünf Listen haben Experten aus den Fachgesellschaften erstellt, die fünf medizinische Maßnahmen benennen, bei denen es eine Überversorgung von Patienten gibt. Die Listen sollen die Basis für Arzt-Patienten-Gespräche sein. Damit der Arzt ans sinnvolle – und nebenwirkungsfreie – Sparen denkt und sein Patient gut informiert mitentscheiden kann, wie er behandelt werden wird.

Beim Bandscheibenvorfall haben Studien längst bewiesen, dass oftmals die skalpellfreie (konservative) Behandlung, unter anderem mit verkrampfungslösenden Schmerzmitteln und Krankengymnastik, ebenso wirkungsvoll ist wie eine Operation. „Eine Studie aus den USA hat gezeigt, dass eine bessere Patientenaufklärung über die verschiedenen Behandlungsoptionen bei Bandscheibenvorfällen 22 Prozent weniger operative Eingriffe zur Folge hatte“, berichtet Hans-Jürgen Hesselschwerdt vom Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie. „Ohne das Therapieergebnis zu beeinträchtigen.“ Dafür müsse man die niedergelassenen Ärzte mehr sensibilisieren, sagt der Mediziner.

Doch er weiß, dass es damit allein nicht getan ist. Die Abwägung „Operation nötig oder nicht?“ erfordere viel mehr Gesprächszeit als die schnelle Entscheidung für das Skalpell. „Diese ,sprechende Medizin’ wird hierzulande aber nicht angemessen bezahlt“, sagt Hesselschwerdt. Die Chirurgie schon. Deshalb bekomme ein Krankenhaus, das häufig die konservative Behandlung der Operation vorzieht, ein wirtschaftliches Problem.

Die Politik müsse hier ein Umdenken fördern, sagt der Mediziner und deutet an, dass es Widerstände gibt: Krankenhäuser, die OP-Säle eingerichtet haben, müssen diese intensiv nutzen, um die Kosten wieder hereinzuholen. Der Umdenkprozess würde zu der unangenehmen Erkenntnis führen, dass es zu viele chirurgische Kapazitäten gibt – die abgebaut werden müssen.

Bewegung ist ein wichtiges Mittel der Sturzprävention

Teuer dürfte es auch werden, wenn die Babyboomer schließlich in das Alter kommen, in dem es vermehrt zu Schenkelhalsbrüchen kommt, jene gefürchteten Verletzungen am Oberschenkelknochen kurz unterhalb des Hüftgelenks. Sie führen oft zu dauerhafter Pflegebedürftigkeit und durch Komplikationen manchmal sogar zum Tod. Jeder dritte bis vierte ältere Mensch erleide einen solchen Bruch, sagt Nerlich. „Alle 70 Sekunden muss in Deutschland ein Patient über 80 Jahre deshalb operiert werden.“

Auch die Prävention von Schenkelhalsbrüchen wird die Kongressteilnehmer in Berlin beschäftigen, berichtet der Arzt. Die Sturz- und Bruchprävention setze oft ganz alltagsnah an: „Für die richtige Brille sorgen und dafür, dass in der Wohnung keine Teppichkante als Stolperfalle hochsteht, und Nachtlichter installieren.“ Zusätzlich müssten geriatrische Erkrankungen wie Blutdruckprobleme und Schwindel behandelt werden.

Immer wieder betonen die Orthopäden und Unfallchirurgen, dass Bewegung in jedem Alter und auch bei eingeschränkter Mobilität, beispielsweise bei Rheuma, ungemein wichtig sei. Für Beweglichkeit und Gleichgewichtssinn, also für die Sturzprävention, aber auch für Herz und Kreislauf. „Wer etwa nach einer Arthroseoperation und dem Einsetzen eines Gelenkimplantats wieder allein laufen lernt und sich bewegt, senkt sein Herz-Kreislauf-Risiko. Die Lebenserwartung steigt deshalb – und auch die Lebensqualität“, sagt Professor Rüdiger Krauspe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie und Co-Präsident des Berliner Kongresses.