Hamburg. Viele Menschen leiden unter Rissen in der Sehnenplatte. Der Arzt Dr. Jörn Kircher verschließt sie mit körpereigenem Material.

Unsere Arme sind ständig in Bewegung, und normalerweise denken wir über diese komplizierten Abläufe, die mit ganz alltäglichen Verrichtungen wie Haarekämmen oder Zähneputzen verbunden sind, nicht weiter nach. Doch damit das möglich ist, müssen Muskeln und Gelenke reibungslos zusammenarbeiten. Wie sehr die gute Funktion eines Gelenks von einer intakten Muskulatur abhängt, zeigt sich am Schultergelenk. Sehnen und Muskeln der sogenannten Rotatorenmanschette umgeben das Gelenk, ermöglichen eine Vielzahl von Bewegungen und sorgen gleichzeitig für Stabilität.

Kommt es in der Sehnenplatte zu Einrissen, wird jede Bewegung zur Qual. „Die Betroffenen haben Schmerzen, sobald sie die Schulter bewegen, zum Beispiel beim Brotschneiden oder beim Schließen einer Autotür. Anfangs treten die Schmerzen nur bei Bewegungen auf, später auch in Ruhe. Je länger der Riss besteht, desto schlimmer wird es“, sagt Privatdozent Dr. Jörn Kircher von der Klinik Fleetinsel in Hamburg. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie ist seit 13 Jahren auf die Behandlung von Schultererkrankungen spezialisiert und hat eine neue Methode entwickelt, um große Risse in der Rotatorenmanschette wieder zu verschließen. Sie soll jetzt in Studien an Patienten erprobt werden.

Solche Einrisse sind häufig, vor allem im zunehmenden Alter. „60 bis 80 Prozent der 80-Jährigen haben solche Einrisse“, sagt der Orthopäde. Die Ursache ist meist ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren. Kircher: „Im Alter werden die Sehnen etwas mürber. Mechanisch ungünstig ist auch ihre Lage unter dem knöchernen Schulterdach. Denn mit zunehmendem Alter bilden sich dort Knochenauswüchse, und die Schulterblätter fallen nach vorn. Beides kann dazu führen, dass Knochen auf den Sehnen scheuern.“

„Sind die Sehnen schon vorgeschädigt, reichen relativ kleine Verletzungen aus, um einen Riss zu verursachen“, sagt Kircher. Ein weiterer Risikofaktor ist das Rauchen. „Bei Rauchern verschlechtern sich Durchblutung und Regeneration des Zellstoffwechsels“, so Kircher. „Beides wirkt sich negativ auf die Sehnen und auf den Heilungsprozess nach einer Operation aus.“

Eine Operation ist die einzige Möglichkeit, um einen Riss in der Rotatorenmanschette zu beheben. „Wenn man den Riss im Frühstadium, also in den ersten drei Monaten, erkennt, kann man ihn einfach mit Nähten wieder verschließen“, sagt Kircher. Wesentlich schwieriger wird es aber, wenn der Riss schon lange besteht oder sehr groß ist. „Dann hat man brüchiges Gewebe, in dem keine Naht mehr hält, oder der Riss ist so groß, dass er sich durch eine Naht nicht mehr spannungsfrei verschließen lässt.“ Und je höher die Spannung ist, umso größer ist das Risiko, dass es an dieser Stelle zu einem erneuten Riss kommt.

Für diese Fälle gibt es von der Industrie hergestellte sogenannte Patches aus tierischem oder menschlichem Gewebe, mit denen der Defekt verschlossen wird. Der Nachteil daran ist, dass es sich um körperfremdes Gewebe handelt, das bestimmte Reaktionen auslösen kann: „Jeder Fremdkörper ist ein Infektionsrisiko. Außerdem versucht der Organismus, das körperfremde Material zu resorbieren. Dieser Vorgang produziert Entzündungsreaktionen“, sagt Kircher. Das seien zwei Gründe, warum sich dieses Verfahren bisher nicht auf breiter Ebene durchsetzen konnte.

Bei alten Menschen ab 70 Jahren kann man in solchen Fällen bestimmte Endoprothesen einbauen. Diese müssen aber in der Regel nach 15 Jahren gewechselt werden, sodass sie bei Menschen im Alter von 40 bis 50 Jahren nicht infrage kommen. Für diese Patienten hat Kircher eine Methode entwickelt, bei der ein solcher Patch aus körpereigenem Sehnengewebe hergestellt wird. „Dafür kann man eine lange Sehne an der Innenseite des Oberschenkels entnehmen, halbieren und aus den beiden Strängen einen kleinen Teppich flechten, mit dem dann das Loch am Schultergelenk verschlossen wird “, erklärt der Orthopäde.

Um diese Idee in die Tat umzusetzen, nahm Kircher Kontakt zu Experten im UKE und im Institut für Biomechanik auf. „Unser erster Schritt war, eine richtige Technik zu finden, um aus der Sehne innerhalb von 15 bis 20 Minuten ein Geflecht herzustellen. Mehr Zeit bleibt nicht, denn das Ganze findet im OP statt und der Patient liegt währenddessen in Narkose“, sagt Jörn Kircher.

Jetzt sollen die ersten Patienten das Sehnengeflecht erhalten

Der zweite Schritt war die Zerreißprobe für den Flicken aus Sehnengewebe. „Wir haben an zwei Seiten ein reißfestes Gewebeband angenäht, das Ganze in eine Materialprüfmaschine eingespannt und dann kontrolliert auseinandergezogen. Das Gewebe hielt stand bis zu einer Zugkraft von 400 Newton, das entspricht einem Gewicht von 40 Kilo, das reicht für die Belastung, die auf den Sehnen in der Schulter liegt, allemal aus“, sagt Kircher.

Größere Flicken messen rund vier mal vier Zentimeter. Um das Sehnengeflecht noch realistischer zu testen, wurde im nächsten Schritt die Prüfmethode weiterentwickelt. Die Wissenschaftler nähten an alle vier Seiten des Sehnenpatches ein Gewebeband und spannten diese Konstruktion in die Prüfmaschine ein. „Dann drückte eine Kugel von oben auf das Geflecht, so wie ein Kopf des Schultergelenks, der von unten durch das Gewebe drücken will. Das entspricht viel eher einer natürlichen Belastungssituation. Bei diesem Versuch hatten wir die ersten Ausrisse bei 1800 Newton, das entspricht einer Kraft von 180 Kilo. Damit bewegen wir uns absolut in einem sicheren Bereich“, erläutert Kircher.

Jetzt will er mit seinen Kollegen diese OP-Methode auch Patienten im Rahmen einer Studie anbieten. „Der Patient wird vorher aufgeklärt, dass es sich um eine neue Methode handelt, die sonst noch keiner benutzt. Wenn der Patient lieber einen anderen industriell gefertigten Patch haben möchte, erfüllen wir natürlich diesen Wunsch. Klar ist auf jeden Fall, dass wir die Methode nur bei großen Defekten einsetzen, die mit den bisher verfügbaren Methoden nicht zu verschießen sind. Infrage kommen dafür auch nur jüngere Patienten, bei denen eine Endoprothese noch nicht angezeigt ist“, sagt der Orthopäde.

Wer sich für die neue Methode entscheidet, durchläuft ein standardisiertes Kontrollverfahren. „Dazu gehören engmaschige Kontrollen nach der Operation mit Ultraschall und Röntgenbild, Kernspintomografie und Funktionsprüfungen. Diese Untersuchungen werden nach sechs Wochen, drei Monaten, sechs Monaten und einem Jahr wiederholt“, sagt Kircher.

Auf dem Jahreskongress der Deutschen Vereinigung für Schulter- und Ellenbogenchirurgie, der Ende Juni in Mannheim stattfindet, soll die neue Methode aus Hamburg erstmals der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentiert werden.