London. Daran, wie Säuglinge Gesichter betrachten, wollen Forscher erkennen, ob sie ein erhöhtes Risiko für Verhaltensauffälligkeiten haben.

Aus dem Verhalten wenige Tage alter Babys glauben Wissenschaftler Hinweise auf das Risiko für spätere Verhaltensauffälligkeiten ablesen zu können. Ihrer Studie zufolge zeigen Neugeborene, die Bilder von Gesichtern intensiv betrachten, im Kleinkindalter seltener impulsives, aggressives oder hyperaktives Verhalten als Kinder, die diese Bilder nur kurz anschauen. Das berichten italienische und britische Psychologen in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“. Aufgrund des zarten Alters der Versuchspersonen seien biologische Faktoren als Grund für die beobachteten Unterschiede wahrscheinlich, schreiben die Wissenschaftler.

Kostas Papageorgiou von der London Metropolitan University (London/Großbritannien) und seine Mitarbeiter hatten zwischen 2004 und 2012 insgesamt 180 ein bis vier Tage alten Neugeborenen Gesichter auf einem Bildschirm gezeigt. Die Forscher notierten dabei, wie lange die Babys die Bilder betrachteten. Den Eltern von 80 der Kinder legten die Wissenschaftler einige Jahre später mehrere Fragebögen vor, mit deren Hilfe sie das Verhalten ihrer Sprösslinge beschreiben sollten. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt zwischen drei und zehn Jahren alt.

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Über die Fragebögen ermittelten die Wissenschaftler unter anderem, wie gut die Kinder ihre Gefühle kon­trollieren können, wie impulsiv sie sind oder ob sie auffällige Verhaltensweisen zeigen – etwa Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen oder Aufmerksamkeitsstörungen.

„Wir haben erstmals gezeigt, dass es einen bedeutenden Zusammenhang gibt zwischen der Art und Weise, wie Babys Bilder betrachten und ihrem späteren Temperament und Verhalten in der Kindheit, etwa Hyperaktivität“, erläutert Studienleitern Angelica Ronald in einer Mitteilung der Birkbeck University of London.

Der Zusammenhang sei statistisch bedeutsam, aber nur moderat, so die Autoren. Eine Befragung der Eltern als Grundlage für die Beurteilung des kindlichen Temperaments sei zudem fehleranfällig. Weitere Untersuchungen müssten deshalb folgen.

Viele Faktoren beeinflussen das Risiko für Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten. Da die Babys erst wenige Tage alt waren, seien die beobachteten Unterschiede im visuellen Verhalten vermutlich bereits bei der Geburt vorhanden gewesen. Als Erklärung schieden damit die Umwelteinflüsse nach der Geburt aus, es blieben genetische Unterschiede oder Einflüsse auf das Baby im Mutterleib.

Schwierige Babys zeigen auch später häufiger Auffälligkeiten

„Es gibt zwar viele Faktoren, die Verhaltensschwierigkeiten in der Kindheit beeinflussen. Doch unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass ein Teil dessen, was das spätere Verhalten beeinflusst, bereits bei der Geburt vorhanden ist“, so Papageorgiou. „In Zukunft können diese Beobachtungen dazu beitragen, Kinder zu identifizieren, die ein besonders hohes Risiko für Aufmerksamkeitsstörungen tragen, wie etwa bei ADHS, und dabei helfen, Interventionen zu entwickeln, die die Aufmerksamkeitsleistung verbessern.“

Aus Studien sei bereits bekannt, dass „schwierige Babys“ – also solche, die zum Beispiel Probleme haben, einen Rhythmus für Essen oder Schlafen zu entwickeln, die viel weinen oder unruhig sind – auch im Kindes- und Jugendalter häufiger Verhaltensauffälligkeiten zeigen oder Lernschwierigkeiten entwickelten, sagt Birgit Elsner, Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Potsdam. „Die Stabilität solcher Unterschiede über mehrere Lebensjahre lässt eine biologische Ursache vermuten.“ Dies könnten etwa genetisch bedingte Unterschiede in Hirnregionen sein, die an der Kontrolle des eigenen Verhaltens beteiligt sind.

Großen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat sein Verhältnis zu den Eltern

Frischgebackene Eltern müssen ihre Neugeborenen aber dennoch nicht überkritisch beäugen: „Man kann an dem Verhalten von Neugeborenen sicher nicht vorhersagen, ob sie später einmal Verhaltensauffälligkeiten entwickeln werden“, betont Elsner. Spätere Einflüsse wie etwa das Verhältnis zwischen Babys und ihren Eltern seien maßgeblich für die Entwicklung des kindlichen Verhaltens. „Gerade dass die in der Studie gefundenen Zusammenhänge statistisch nur moderat sind, spricht für die Bedeutung von solchen Umwelteinflüssen.“