Hamburg. Eine Studie am Universitätskrankenhaus Eppendorf zeigt die positive emotionale Wirkung von Liedern auf chronische Schmerzpatienten.

Wir joggen mit Musik, machen Gymnastik und Zumba. Wir lassen uns durch Musik zu Mehrausgaben im Kaufhaus verführen. Musik lässt Kühe angeblich mehr Milch geben, und einige Winzer schwören sogar auf gregorianische Chöre, um ihre jungen Weine in den Fässern milde zu stimmen. Musik entspannt uns also, putscht uns auf oder lässt uns einfach nur beschwingter durchs Leben gehen. Dass Musik auch eine positive Wirkung auf Heilungsprozesse haben kann, weiß man auch im Universitätskrankenhaus Eppendorf schon länger: Seit sechs Jahren läuft dort bereits das Projekt „Musik, Mensch, Medizin“. „MMM“: Das sind vier Konzerte pro Jahr im Foyer sowie eine tägliche Klaviersoirée im Café des neuen Klinikums. Die Konzerte – der Eintritt ist frei – werden auf die Patiententerminals übertragen, sind also am stationären Krankenbett mit Bild und Ton verfügbar. Das Projekt ist so erfolgreich, dass es am heutigen Dienstag mit dem Medizin-Preis „Heilsame Stimmung im Krankenhaus“ ausgezeichnet wird.

Die „richtige wissenschaftliche Musik“ spielt etwa 250 Meter Luftlinie entfernt, in der Klinik und Poliklinik für Gefäßmedizin, wo der Klinikdirektor Prof. Sebastian Debus und seine Mitarbeiterin Dr. Fiona Rohlffs – beide organisatorisch und künstlerisch ebenfalls bei MMM engagiert, denn sie spielen hervorragend Klavier, Kontrabass und Geige – zurzeit mit dem Neurologen und Neurophysiologen Dr. Michael Hauck an einer Studie arbeiten, mit der sie den positiven Einfluss von Musik direkt im Gehirn von chronischen Schmerzpatienten wissenschaftlich nachweisen wollen. Das ist die Grundvoraussetzung für eine medizinisch begründbare Schmerz-Musik-Bewegungstherapie, die dann von den Krankenkassen anerkannt würde.

Die bisherigen Ergebnisse der Studie – dies sei schon mal vorweggenommen – geben Anlass zu berechtigten Hoffnungen: Musik kann offenbar chronische Schmerzen lindern und einen Therapieverlauf begünstigen. Denn Emotionen besitzen nachweislich großen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung durch den Menschen.

Die Probanden für die Studie stammen allesamt aus der großen Gruppe der Patienten, die an „PAVK“ leiden, an der „peripheren arteriellen Verschlusskrankheit“, einer Störung der arteriellen Durchblutung der Extremitäten, die mitunter auch „Schaufensterkrankheit“ genannt wird. Der Grundstein für solch eine Arteriosklerose wird ­zumeist schon im jungen Erwachsenenalter gelegt. Die Krankheit schreitet allerdings sehr schleppend voran. Für gewöhnlich verläuft sie in vier ­Stadien, vor allem aber das Rauchen wirkt sich extrem ungünstig auf die zunehmende Verschlechterung der Durchblutung aus.

Hans-Jürgen Reinecke, 68, einer von rund 4,7 Millionen PAVK-Patienten allein in Deutschland, hat bereits zwei Operationen hinter sich. „Dennoch konnte ich auch hinterher kaum laufen. Schon nach 50 Metern wurden die Schmerzen unerträglich – trotz der Medikamente, die ich ständig nehmen muss“, sagt er. Dabei wäre möglichst viel Bewegung das Beste, was Reinecke für sich tun könnte, „denn je mehr die Extremität gefordert wird, desto besser kann die Ausbildung von Kollateral­gefäßen unterstützt werden, was den Krankheitsprozess verlangsamt oder sogar die Beschwerdesymptomatik verbessert“, sagt Fiona Rohlffs. Somit könne ein kontinuierliches Gehtraining die Schmerzsymptomatik positiv beeinflussen. Das Ziel sei es daher, sein limbisches System, eine Funktionseinheit unseres Gehirns, die für die emotionale Schmerzbewertung wichtig ist, mit seiner Lieblingsmusik zu überlisten.

Medikamentöse Therapien stoßen bei komplexen Schmerzen an ihre Grenzen

Auf dem Laufband klappt das schon ganz gut: Wenn Hans-Jürgen Reineckes seine Lieblingssängerin Jennifer Rush („The Power Of Love“) hört, schafft er inzwischen bereits die vierfache Strecke – 200 Meter, ganz ohne Schmerzmittel. „Wir wollen jetzt wissen, warum das so ist“, sagt Fiona Rohlffs. „Dazu müssen wir versuchen, diese Emotionen, die sich positiv aufs Schmerzentrum auswirken, sichtbar zu machen. Wir benötigten eine Laborsituation, mit der wir chronische Belastungsschmerzen künstlich erzeugen können, um später die Hirnaktivität messen zu können.“

Die Medizinerin fand eine relativ simple Lösung dieses Problems: Hans-Jürgen Reinecke wird – im Sitzen – eine Manschette zum Blutdruckmessen um den Oberschenkel geschnallt und bis zu einem bestimmten Punkt aufgepumpt, was seine Waden ein heftiges Schmerzsignal („vaskulärer Ischämieschmerz“) aussenden lässt, das sich jedoch durch die „Power Of Love“ einer Jennifer Rush signifikant – auf dem Kontrollmonitor optisch sichtbar – abschwächt. „Unsere Versuchspersonen müssen zunächst jeweils einen umfangreichen Schmerzfragebogen ausfüllen und dürfen sich dann drei Stücke ihrer Lieblingsmusik aussuchen, wobei uns bereits aufgefallen ist, dass es vollkommen egal ist, um welchen Musikstil es sich handelt“, sagt Fiona Rohlffs – die auf diese Weise bereits eine große Musikdatenbank für Studienteilnehmer verwaltet.

Mittlerweile lässt sich das unterschiedliche Schmerzniveau des Patienten unter Musikeinfluss mithilfe einer visuellen Analogskala dokumentieren. Für den Klinikdirektor steht inzwischen fest: „Die Musik prädestiniert sich als mögliche Option mit großem Potenzial. Unsere Studien zeigen, dass sie als emotional modifizierendes Medium genutzt werden kann, um Schmerz nachhaltig zu beeinflussen“, sagt Sebastian Debus.

Für die chronischen Schmerzpatienten hätte dies zwei große Vorteile: „Zum einen stößt die stärkste medikamentöse Therapie bei komplexen Schmerzsyndromen an ihre Grenzen und kann manchmal keine adäquate Schmerzlinderung mehr verschaffen. Und zum anderen wissen wir ja leider auch um die unerwünschten Nebenwirkungen der Analgetika, wie etwa eine dauerhafte Schädigung der Nieren oder des Magens.“

Trotzdem: Die Aussicht, schon bald „Beethoven gegen Tumorschmerzen oder die Beatles gegen Phantomschmerzen“ zu verordnen, sei sicherlich reizvoll, aber noch Zukunftsmusik.