Auf der ersten Fahrt der neuen „Sonne“ erkunden Forscher aus Hamburg und Kiel den Meeresboden in knapp 6000 Meter Tiefe.

Zentral-Atlantik. Sie entdecken, was noch niemand erblickte: unbekannte unterseeische Berge und Täler sowie deren Bewohner, die entlang des zehnten Breitengrades Nord im Atlantik auf dem und im Meeresboden leben. Schon das erste Bild aus 5730 Metern überraschte die Forscher: „Wir sehen Rippelmarken, die uns gut vertraut sind vom heimischen Watt. Doch hier geben sie uns Rätsel auf. Damit diese Oberflächenstrukturen entstehen, müssen in der Tiefsee starke Strömungen vorkommen. Bislang gingen wir davon aus, dass es derartige Strömungen dort gar nicht gibt. Es scheint so, dass wir unsere Vorstellungen überdenken müssen“, sagt Prof. Colin Devey, Fahrtenleiter der ersten Expedition des deutschen Forschungsschiffes „Sonne“.

Das Abendblatt erreichte den Geologen, der am Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (Kiel) arbeitet, telefonisch an Bord des weltweit modernsten Forschungsschiffes, das sich im November noch in Hamburg präsentierte. „Der Tiefseeboden ist anders, als ich gedacht habe. Er hat Krater, Steilhänge, kleinere und größere Gräben. Und überall gibt es offenbar Leben“, staunt Prof. Angelika Brandt, stellvertretende Fahrtenleiterin der Reise. Die Meeresbiologin vom Zoologischen Museum der Universität Hamburg war auf der Suche nach Leben schon oft auf den Ozeanen unterwegs.

Wie der Tiefseeboden im Detail aussieht, zeigen genaue Karten der unterseeischen Landschaften, die während der sechswöchigen Expedition an Bord der „Sonne“ entstehen. Devey: „Diese Karten sind die besten der Welt und entstammen Tiefen, die wir uns noch nie getraut haben zu kartieren.“ Ein Fächerecholot am Rumpf der „Sonne“ und eines, das am autonomen Unterwasserfahrzeug „Abyss“ montiert ist, liefern die Daten. Aus ihnen errechnen Computerprogramme die Karten.

„Abyss“ wird zur „Landvermessung“ von Deck aus in die Tiefsee hinabgelassen. Die Karten zeigen ein detailliertes Bild vom geologischen Aufbau des Meeresbodens.

„Für die Auswertung unserer Proben, die wir mit speziellen Geräten in mehr als 5000 Metern Tiefe aus dem Meeresboden entnehmen, sind diese Karten ein Glücksfall“, sagt Angelika Brandt. Da die Geologen die Orte der Probenahmen in die Karten eingezeichnet haben, können die Biologen nun herausfinden, ob und wo sich organisches Material sammelt. Diese Regionen sind Futterplätze für die Bewohner des Meeresbodens. Überrascht war Angelika Brandt, dass „ihre“ Tiere in 5000 Metern Tiefe offenbar auch Braunalgen der Gattung Sargassum verzehren. Dieser Alge, die frei im Wasser schwebt, verdankt die Sargassosee ihren Namen. Das Meeresgebiet liegt aber rund 2300 Kilometer nördlich der Route, auf der die „Sonne“ unterwegs ist. Es sei schon erstaunlich, so Brandt, wie weit die Alge verdriftet werde.

Seit 17 Tagen arbeiten 39 Forscher und 31 Crew-Mitglieder bereits im schwimmenden Großlabor. Sie sammeln Daten über Salzgehalt und Temperatur des Wassers, kartieren den Meeresboden, entnehmen Proben. Die Gesteine, die die Geologen aus der Tiefe geholt haben, sind vermutlich mindestens 120 Millionen Jahre alt. Reichlich Material bestand aus Mangankrusten und -knollen. Manganknollen enthalten Metalle, die sehr begehrt sind – wie Mangan, Eisen, Kupfer, Nickel und Kobalt. Doch noch gibt es keine Technologie, um diese Rohstoffquellen in der Tiefsee kommerziell zu erschließen. Die Proben von Bord der „Sonne“ landen nach Ende der Reise zur weiteren Untersuchung in deutschen Instituten.

Dort werden auch die biologischen Proben landen, die Angelika Brandt und ihr Team sammeln. Das Material aus der ersten der drei Probenregionen ist bereits sortiert und für den Transport nach Deutschland vorbereitet. „Wir haben insgesamt 1952 Tiere gefunden. Rund 35 Prozent davon sind Meeresborstenwürmer, 34 Prozent Ruderfußkrebse und zwölf Prozent Meeresasseln. Bei den Asseln, das zeigt eine erste Bestimmung, haben wir Arten gefunden, die auch in anderen Tiefseebecken des Atlantiks vorkommen“, sagt Brandt. Gibt es also vielleicht einen regen Austausch zwischen den Lebewesen in den Tiefen unserer Meere?

Die Arbeit an Bord mit den biologischen Proben ist nur etwas für Forscher, die Temperaturunterschiede gut vertragen. Sobald die Proben aus der eiskalten Tiefsee an Deck kommen, wo warme 26 Grad herrschen, müssen sie sofort in kaltem Alkohol fixiert und in den minus 20 Grad kalten Kühlraum gebracht werden. Dort sortieren Forscher in Winterjacken, Mützen und Handschuhen auf einem großen Sieb die größeren Tiergruppen aus dem Schlamm, fotografieren sie und katalogisieren sie mit Identifikationsnummern. Alle Proben, die Kleinstlebewesen enthalten können, fixieren sie sorgfältig in eiskaltem Alkohol oder Formalin. So vor dem Verfall geschützt, werden sie nach Abschluss der Reise mit speziellen Kühlcontainern nach Deutschland geschickt. Weil die Wissenschaftler auch genetische Analysen durchführen wollen, um die evolutionäre Entwicklung des Lebens in der Tiefsee genauer zu erfassen, werden die Auswertungen voraussichtlich erst in zwei Jahren abgeschlossen sein.

An Bord lässt es sich bislang gut aushalten. Das 116 Meter lange Schiff liegt stets ruhig, dank der sanften Brise über dem Atlantik. Und es fährt so leise, dass man nur die Klimaanlage, nicht aber Fahrgeräusche, hört. „Vor allem aber gab es so gut wie keine ‚Kinderkrankheiten’. Diese hatte ich bei einem so komplizierten Apparat wie einem Forschungsschiff erwartet. Aber nahezu alles läuft rund“, sagt Devey. Es sei faszinierend, ergänzt Brandt, wie schnell auf der neuen „Sonne“ Besatzung und Wissenschaftler zu einer gut funktionierenden Einheit zusammengewachsen seien.

In knapp vier Wochen wird das Schiff in Santo Domingo (Dominikanische Republik) festmachen. Die Forscher fliegen dann nach Hause. Im Gepäck werden sie viele neue Erkenntnisse und noch mehr Fragen haben. Denn obwohl die Tiefsee-Ebenen zwischen 3000 und 6000 Metern unter der Wasseroberfläche rund 60 Prozent der Oberfläche unseres Planeten ausmachen, sind sie bislang kaum erforscht. Rund 10.000 Arten, die in den Meeren leben, kennen die Forscher – sie vermuten, dass 2,2 Millionen unterschiedliche Lebewesen die Meere besiedeln.

Mit der Expedition wollen die Forscher, die auch von der Universität Köln und dem Deutschen Zentrum für Biodiversitätsforschung der Senckenberg-Gesellschaft kommen, dazu beitragen, die Wissenslücken zu füllen. Eines ist schon klar: Die Vorstellungen über Tiefseeböden werden nach dieser Fahrt wohl überarbeitet werden müssen.

Der aktuelle Standort des Schiffes ist im Internet zu verfolgen unter: www.sailwx.info/shiptrack/ shipposition.phtml?call=DBBE