Forscher ergründen, welche der vielen Billionen Bakterien in und auf uns eine schützende Wirkung entfalten – und welche krank machen können.

Hamburg. Wer steril lebt, bekommt keinen Darmkrebs. Zumindest, wenn er eine Maus ist. Seit einigen Jahren beschäftigen sich Forscher auf der ganzen Welt vermehrt mit den Bakterien, die uns bevölkern. Jeder Mensch ist schließlich alles andere als steril. Geschätzte 100 Billionen Einzelwesen leben auf und vor allem in jedem Menschen; das sind zehnmal mehr Zellen, als ein Mensch hat. Was genau die Massen von Bakterien in unserem Darm tun, wann sie uns nützen und unter welchen Umständen sie womöglich Schaden anrichten, verstehen Mediziner allerdings erst ansatzweise. Neue Erkenntnisse erhoffen sie sich vor allem von Mäusen.

Wie sollte man auch an einem Menschen mit seinem Bakterienzoo von mehr als 1000 verschiedenen Arten herausbekommen, welches Bakterium für welchen Effekt verantwortlich ist? „Wir verwenden sterile Mäuse, die per Kaiserschnitt geboren, mit sterilem Futter in sterilem Umfeld aufgezogen werden“, sagt Professor Samuel Huber vom UKE. „Sicher ist schon mal: Sterile Mäuse sind vor Darmentzündung und Dickdarmkrebs geschützt. Das klingt gut. Allerdings ist bei ihnen die Regulation der Wundheilung gestört.“

In einer ausgewogenen, gesunden Darmflora sorgen nämlich Bakterien für die perfekte Balance von Tumorvermeidung und Wundheilung. Huber: „Ist die Darmwand beschädigt, gelangen Bakterienbestandteile an bestimmte Sensorzellen, die die Immunabwehr einschalten und die Wundheilung aktivieren. Botenstoffe sorgen dafür, dass sich die Zellen der Darmwand vermehrt teilen, um die Wunde zu schließen. Das ist aber nur in Maßen gut: Wenn sich die Zellen unkontrolliert vermehren, kann Krebs entstehen.“

Eine veränderte Zusammensetzung der Darmbakterien kann also offenbar sowohl Ursache als auch Folge einer Darmerkrankung sein. Huber und seine Arbeitsgruppe untersuchen die Mechanismen, über die Mensch und Bakterium ein gesundes Gleichgewicht wahren. Dazu arbeiten sie im UKE mit Mäusen, die genetisch so verändert sind, dass sie leicht Darmentzündungen und Darmkrebs bekommen. Setzt man sie mit gesunden Normalmäusen in den Käfig, so tun Mäuse, was sie immer tun: Sie lecken sich gegenseitig ab und übernehmen so neue Darmbakterien. Offenbar ist die Verschiebung der Bakterienzusammensetzung damit übertragbar. Denn nach einer Weile entwickelten auch die unveränderten Mäuse leichter Darmentzündungen. Ursache dafür sind dabei nicht etwa krank machende Keime, sondern angestammte Arten, deren Mengenverhältnisse im Darm aus dem Lot geraten sind.

Welche der zum Großteil noch unbekannten Bakterienarten in welchen Mengen in uns leben, entscheiden viele Faktoren, allen voran die Umgebung, unsere Gene, der Gebrauch von Antibiotika und die Ernährung.

Wie schnell sich unsere Darmflora den Essgewohnheiten anpasst, zeigten Forscher der Universität Harvard. Sie verordneten Studenten eine vegetarische Diät und konnten schon nach fünf Tagen eine deutliche Veränderung in der Darmflora nachweisen. Nach einer Pause mit der gewohnten Lebensweise aßen die Testpersonen konsequent Tierisches: Fleisch, Eier, Milchprodukte. Wieder war bereits nach fünf Tagen die Darmflora eine andere. Zwar weiß man schon länger, dass das Essen einen Einfluss auf die Darmflora hat. Dass die Mikroben allerdings schon so schnell reagieren, überraschte selbst Fachleute.

„Bakterien sind für die Ernährung essenziell“, erklärt der Biologe und Wissenschaftsjournalist Hanno Charisius. „Ohne sie könnten wir die meisten Bestandteile unseres Essens gar nicht aufnehmen.“ Gemeinsam mit seinem Kollegen Richard Friebe hat er zusammengetragen, was über unsere mikroskopischen Mitbewohner bekannt ist. Ihr Buch „Bund fürs Leben“ erscheint im März. Darin beschreiben sie, wie Forscher schlank und dick machenden Bakterien auf die Spur kommen, ebenso wie heilenden und krank machenden.

Wieder verdanken wir wichtige Erkenntnisse Mäuseversuchen. Sterile Mäuse fressen mehr als Artgenossen, die von Bakterien besiedelt sind. Trotzdem lagerten sie 42 Prozent weniger Fett unter der Haut ein. Erst, wenn sich die Nager an unsterilen Mäusen mit Bakterien infizieren konnten, nahmen sie zu – und zwar gewaltig: Männliche Versuchtiere legten fast 60 Prozent an Fett zu, die Weibchen setzten sogar bis zu 85 Prozent Unterhautfett zu. Das Experiment des Schweden Frederik Bäckhed beweist, dass Bakterien darüber entscheiden, welche Nahrungsbestandteile verwertet werden können.

„Die Bakterien in uns beeinflussen, ob wir gute Futterverwerter sind oder nicht“, sagt Charisius und erklärt: „Laut Packung hat ein Würstchen vielleicht 320 Kalorien. Wenn fleißige Mikroben alle Moleküle aus dem Nahrungsbrei so zerkleinern, dass die Darmschleimhaut sie gut aufnehmen und die Körperzellen sie verstoffwechseln können, kann ein Mensch auch 320 Kalorien aus der Wurst ziehen. Wenn aber die bakterielle Bevölkerung die Wurstbestandteile nicht komplett oder nicht gut bearbeitet, so nimmt der Mensch möglicherweise nur 300 oder 250 Kalorien auf.“

Auch an der Entstehung von Diabetes sind Bakterien vermutlich beteiligt. Bestandteile von Bakterienhüllen (Lipopolysaccharide, LPS) versetzen das Immunsystem in Aufruhr. Spritzt man sterilen Mäusen LPS, entwickeln sie wie Diabetiker eine Insulinresistenz und werden übergewichtig. „Ob das beim Menschen auch so funktioniert, weiß noch niemand“, sagt Charisius. „Die Rolle von Bakterien in der Entstehung von Übergewicht und Diabetes wird die Forschung noch Jahre beschäftigen.“

Das Buch „Bund fürs Leben“ von H. Charisius und R. Friebe erscheint am 17. März im Hanser Verlag. 319 Seiten, 19,90 Euro