Nach der großen Abendblatt-Serie über Schule in den vergangenen Jahrzehnten erinnert sich nun Abendblatt-Leser Alfred Lorani an Schule in den 40er-Jahren zwischen Kinderlandverschickung und Terror.

Alfred, komm nach vorn! Nennst du das eine ordentliche Schrift? Streck die Hand aus!“

Unsere schon etwas ältliche, grauhaarige Lehrerin kramte in ihrer vollen Schublade, fand ihr 30-Zentimeter-Lineal und schlug mir mit aller Kraft dreimal auf meinen Handrücken. Zweimal mit der flachen und einmal mit der scharfen Seite. Nach einer Woche war die Schwellung durch kalte Umschläge abgeklungen. Weil meine sechsjährigen Knochen wohl noch im Grünholzstatus waren, war nichts gebrochen. Die Schrift verbesserte sich durch diese Spezialbehandlung nicht. Als Linkshänder hätte ich gern mit meiner Haupthand geschrieben, was aber verboten war. „Links“ war 1937 ein Unwort. Nach einer Woche konnte ich wieder schreiben und entwickelte mich zum Beidhänder. Nach einer Beschwerde meiner Eltern beim Schulrat wurde derartige Folter für drei Wochen ausgesetzt.

Abgesehen von ihrer unangenehmen, aber weitverbreiteten Einstellung zur Pädagogik, hatte die Lehrerin recht. Ich war kein schlechter Schüler, immer lernbegierig, schrieb aber eine fürchterliche Klaue. Und das zu einer Zeit, als auf der Schiefertafel der Buchstabe „i“ noch in Kurrentschrift, wie später in Sütterlin, mit den Kommandos: „Rauf! Runter! Rauf! Pünktchen drauf!“, produziert wurde.

Unsere Schule im Hamburger Stadtteil Dulsberg befand sich auf dem Viereck zwischen den Straßen Alter Teichweg, Tondernstieg, Tondernstraße und Nordschleswiger Straße. Sie bestand aus einigen grauen Baracken. Interessant, vor allem nach dem Kriegsbeginn 1939 mit der allgemeinen Männerknappheit, war der zusammengefasste Unterricht mehrerer Klassen. So lernte ich synchron die neue lateinische Schrift, das spezifisches Gewicht und das Gedicht „When first King Arthur ruled the land / he ruled it like a king / he took three bags of Barley-meal / and made a Plumpudding.“ In Mathe fiel ich dumm auf mit der Frage: „Wieso kostet ein Rundstück 3 Pfennig, zwei Rundstücke aber fünf?“

Nach vielen Bombenangriffen wechselte ich die Schule. In der direkt neben dem Osterbekkanal gelegenen Schule Amalie-Dietrich-Weg war es üblich, morgens vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof anzutreten und mit zum Hitlergruß waagerecht erhobenem rechten Arm drei Strophen des Deutschlandliedes und das Horst-Wessel-Lied der Nazis zu singen. Gegen Liedschluss begannen die armen Arme zu zittern. Meine Handschrift wurde davon auch nicht besser. Wichtig für mich war dabei aber, dass wir jetzt eine hübsche 18 Jahre alte Lehrerin mit dem Namen Leineweber hatten, in die die ganze Klasse verliebt war. Nicht nur, weil sie nie jemanden bestrafte. Alle waren diszipliniert, fleißig, immer bedacht, die geliebte Lehrerin nicht zu enttäuschen und hatten entsprechend gute Zeugnisse.

Schulwechsel wegen der Bomben

Als die Bombardierung sich verstärkte, wurden Schulkinder der Klassen eins bis vier in sichere Gebiete verschickt. Mein sechsjähriger Bruder und ich landeten im hintersten Sachsen. Oberschönbach hieß das Dorf in der Oberlausitz. Die Schule hatte nur einen Lehrer und eine Klasse. Man war beim Lernen sehr auf sich selbst angewiesen. Mit dem ersten Hahnenschrei mussten wir im Sommer aufstehen. Meine Arbeit war das Füttern der Schweine. Viel Freizeit und Zeit für Schularbeiten blieben nicht.

Zurück in Hamburg musste ich die Aufnahmeprüfung in die Oberrealschule nachholen. Alle meine gleichaltrigen Freunde besuchten eine schon jetzt überfüllte Barmbeker Schule. Ich kam als Einziger in eine Eilbeker Oberrealschule in der Uferstraße 9. Wenn ich auf meinem langen Schulweg Fliegeralarm bekam, musste ich versuchen, in fremden Kellern unterzukommen. Schon die erste Unterrichtsstunde war ermutigend. Der Englischlehrer, ein kleiner magerer Typ, prüfte das Thema „th“, das er offensichtlich übers Wochenende als Hausarbeit üben ließ: „Diese drei Bäume. These three trees! Und denkt daran, deutlich „th“ sprechen! These three trees!“ Die ersten beiden Schüler sprachen die Worte nach. Der dritte bekam danach vom Lehrer eine schallende Ohrfeige. In dem Verhältnis arbeitete sich der Lehrer durch die ganze Klasse. Ich wunderte mich, weil es sich nach meiner Meinung um eine kinderleichte Aufgabe handelte, hatte aber nicht sorgfältig genug auf die Zunge des Lehrers geachtet. Außerdem begriff ich nicht, was es mit dem „Diät sprechen!“ auf sich hatte. Dann war ich dran und sagte zumindest phonetisch richtig: „Sisn srin trisn!“ Rumms! „Nein: These three trees!“ – „Sisn srin trisn!“ Rumms! Jetzt meldete sich lautstark mein Banknachbar: „Herr L., Lorani ist neu in der Klasse!“ – „Sag das doch gleich!“

Seitdem kann ich, wenn ich auf der rechten Seite schlafe, die Umweltgeräusche völlig ausblenden, es sei denn, dass ich mein Hörgerät im Ohr habe.

Die zweite Stunde, Zeichnen, war interessanter. Ein freundlicher, für die Kriegszeit relativ junger Vertretungslehrer erläuterte uns die Zentralperspektive und zog dabei ein winziges silbernes Gerät aus der Tasche. „Alle mal zusammenrücken!“ Er fotografierte die Klasse und hielt das Gerät hoch: „Die neueste Erfindung meiner Dienststelle. Ein Fotoapparat von Minox.“

„Lernt diese Nummer auswendig“

Er erläuterte uns, dass er zur Geheimen Staatspolizei gehöre, und man beschlossen habe, auch jüngere Agenten anzuwerben. Es wäre ein interessantes Arbeitsgebiet als Beobachter, das neben einem normalen Beruf bearbeitet würde. „Meldet Euch nicht!“ Er schrieb eine Nummer an die Wandtafel: „Lernt diese Nummer auswendig und ruft sie an, wenn Ihr körperlich und orthografisch fit sowie interessiert seid! Und nun zur Perspektive!“ Dann löschte er die Nummer. Ich war mit dieser Klasse lange mit der Kinderlandverschickung in der Tschechoslowakei, damals „Böhmen und Mähren“ genannt, und habe viele gute Freunde gewonnen. Aber nie hat jemand das Thema Gestapo auch nur am Rande wieder erwähnt.

In diesem KLV-Lager hatten wir keine Störungen im Unterricht und Zeit für Schularbeiten. Wir konnten dadurch vieles Versäumtes aufholen. Zurück aus Böhmen hieß zurück in die Unruhe. Kaum eine Nacht ohne Fliegeralarm. Durch den Tod mehrerer Zeitungsausträger mussten Jugendliche verpflichtet werden. Ich trug im Bereich der Straße Lämmersieth jeden Tag 100 Exemplare vom „Hamburger Tageblatt“ aus. Als ich eines Morgens verspätet nach einer schlaflosen Nacht auf dem Schulhof erschien, sah ich, dass die Schule einen Volltreffer erhalten hatte. Mein Freund Günter begrüßte mich mit den Worten: „Beeil dich! Die zerstückeln das Krokodil! Ein Feuerwehrmann hat es aus dem Fenster geworfen und gesagt, dass man nicht stirbt, wenn man ein Stück davon bei sich trägt.“ Ich zog sofort mein Fahrtenmesser, rannte zur fingerdicken Krokodilhaut, die zuvor der Stolz des Biologielehrers war, und säbelte, wie mit mir vier andere Schüler, ein Stück von fünf mal acht Zentimetern ab. Was konnte mir jetzt noch passieren?

Vor den Bombenangriffen der Operation Gomorrha 1943 floh unsere Restfamilie nach Gotenhafen, wo mein Vater mit seinem Vorpostenboot lag. Schule fiel aus.

Weil unsere Wohnung am Tondernstieg 12 in Schutt und Asche lag, flohen wir auf das Gut meines Onkels ins Mecklenburger Dambeck bei Wismar. Es gab nur eine einklassige Dorfschule, deshalb las ich alles, was die Bibliothek des Gutshauses hergab. In Physik war ich danach schon ganz bewandert. Aber Latein fehlte. Eine freundliche Tante in Wismar nahm mich in ihre Familie auf, sodass ich die Große Stadtschule in Wismar besuchen konnte. Neue Schulbücher und neue Unterrichtsmethoden. Als dort wegen der Flugzeugfabriken auch die Bomben krachten, wurde die Schule nach Neukloster an einen romantischen See verlegt.

Ich geriet in dem Durcheinander in eine Stube mit zwölf klassischen Gymnasiasten, die nur Latein und Altgriechisch lernten, aber jeder für sich ein Genie war. Ich hatte mich noch nie so wohlgefühlt wie unter diesen Jungen, unter denen sich Ingenieure für Flugmodellbau, Geografen, Comiczeichner und Modeschöpfer befanden.

Als die Front näher rückte, musste ich die Schule in Richtung Westen nach Grevesmühlen verlegen. Wieder andere Unterrichtsmethoden. Inzwischen hatte ich in den verschiedenen Schulen viermal den Satz des Pythagoras und nie den Satz des Thales gelernt.

Als sich Sowjets und Amerikaner trafen, fiel die Schule wieder aus. Die Flucht in den Westen 1945 war ein Kapitel für sich. In Hamburg hieß es nur: „Schule nur bis zur vierten Klasse, darüber in den Trümmern Steine klopfen!“ Ich schaltete auf den Rat meines Vaters, der inzwischen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen war, um und begann eine Lehre als Maschinenbauer. Ich habe es nie bereut! Pauken musste ich natürlich in der Berufsschule, im Ingenieurstudium, in zahlreichen Fach- und Sprachkursen sowie im Altersstudium der Literaturwissenschaften bis zum Magister immer wieder. Ich bin jetzt 82 Jahre alt und habe noch jede Menge Pläne. Die partiell unproduktiven Schulzeiten hatten für mich den Vorteil, dass ich bis heute einen Heißhunger darauf habe, etwas Neues zu lernen. Nichts hat nur Nachteile.