Immer mehr Schüler klagen in Zeiten von G8 und Ganztagsschule über Stress und Überforderung. Aber wie war es früher? Vanessa Seifert erinnert sich an eine Schulzeit in den 90er-Jahren zwischen Tennis und Technisierung.

Ein Kind der Einheit bin ich. Kohls Mädchen. Denn „Bundeskanzler“ und „Kohl“, das war für uns Kinder der 90er-Jahre so eng miteinander verbunden, dass wir es intuitiv in einem Wort geschrieben hätten. Es gab praktisch immer Kohl, Kohl, Kohl, was sich ein bisschen nach dem Eintopf anhört, der bei uns zu Hause sonnabends manchmal zum Mittagessen auf den Tisch kam, bevor mein Vater den Rasen mähte. Dinge, die mal heiß gekocht worden waren, wurden verrührt und aufgewärmt – und irgendwie hat es allen geschmeckt. So war das wohl auch irgendwie mit Helmut Kohl. Bis ich erwachsen wurde. Oder zumindest volljährig.

Ich war jedenfalls schon 18 Jahre alt, als Gerhard Schröder ins Amt kam. Dieser Oktober 1998 markiert das Ende einer Kindheit und Jugend, in der uns vieles Banane, aber politisch eben alles Birne war. Wenn Soziologen heute unsere Generation analysieren, dann heißt es oft, wir seien unpolitisch. Es ist richtig, dass wir keine Friedenstauben auf Plakate gepinselt haben und dass unsere bekannteste Demo die Love Parade durch Berlin war, von der nur ein zertrampelter Tiergarten übrig blieb. Aber es ist falsch, uns Desinteresse zu unterstellen. Wir haben einfach nur gelernt, dass es bequemer ist – und auch wärmer als auf der Straße –, manche Probleme auszusitzen. Die Landschaften blühen trotzdem. Irgendwann.

Die Wiedervereinigung war jedenfalls eine Wende, auch für uns Kinder. An unserer Grundschule, so tief in der westdeutschen Provinz, dass man Urlaubsfreunden immer erklären musste, dass der Ort noch nicht in Holland liegt, da saß auf einmal Ronny aus Karl-Marx-Stadt auf der Bank. Ein Mitschüler, den wir fortan immer baten, die Textaufgabe doch bitte laut für die ganze Klasse vorzulesen. Einfach, weil Ronny alles so lustig aussprach. An ihm faszinierte uns außerdem, dass er noch nie im Ausland gewesen war. Noch nicht mal auf Mallorca, wie er uns auf Nachfrage bestätigte.

Dass das realsozialistische Experiment DDR gescheitert war, das haben wir als Neunjährige nicht verstanden. Aber die Magie des Moments, die haben wir gespürt. Was womöglich auch an David Hasselhoff lag, für dessen CD viele von uns lange ihre 2 Mark Taschengeld pro Woche gespart hatten, und unter dessen Freiheitsgesang die Mauer ja erst zu bröckeln begonnen hatte. Dass dieser Mann, der zum berühmtesten Bademeister der Welt werden sollte, für den Zusammenbruch des Ostblocks mindestens so wichtig war wie Genscher und Gorbatschow zusammen, das erzählten mir noch 1997 amerikanische Freunde an der Highschool.

Recycling, auch das lernte ich als Austauschschülerin, war in den USA kein Thema. Ganz anders in Deutschland. 1991, in jenem Jahr, als ich als Fünftklässlerin ans Gymnasium kam und meine Mutter wegen des Golf-Kriegs in der Kirche für Frieden betete, da wurde der Grüne Punkt erfunden, das Yin und Yang der Ökologie. Irgendwie wurde bei uns in Nordrhein-Westfalen zudem gefühlt jedes Jahr eine neue, Platz schluckende Mülltonne eingeführt, was meine Eltern fast dazu genötigt hätte, das Nachbargrundstück noch dazuzukaufen. Mein Start am Gymnasium war sehr „okay“, um ein Lieblingswort dieser Zeit zu recyceln. Raider hieß plötzlich Twix, aber sonst änderte sich nix. Oder nur wenig. Etwa sechs Monate lang hatten wir noch an jedem zweiten Sonnabend Unterricht, bis eine Elterninitiative ihren Standpunkt durchgezetert hatte, dass man uns zarten Geschöpfen damit zu viel zumute. Ich persönlich fand es fast ein bisschen schade, weil ich im Eckenraten immer ganz gut abgeschnitten hatte. Damit hatten unsere Lehrer die Motivation ankurbeln wollen, vermutlich auch die eigene.

Unter unseren Lehrern befanden sich einige „Alt-68er“, wie es hieß. Was das bedeutete, merkten wir in der Deutschstunde. Da wollte der Gerd immer alles ausdiskutieren. Wie er mit Nachnamen hieß, weiß ich gar nicht mehr, weil wir ihn ja duzen mussten. Wir seien schließlich Freunde. Das war natürlich eine Illusion. Vor allem für den Gerd. Der fiel uns mit seiner anbiedernden Kumpeligkeit mindestens so auf den Wecker wie mit seinem Lieblingsschriftsteller Peter Handke, der im Jugoslawien-Konflikt mit seiner pro-serbischen Haltung zusätzlich irritierte. Da war mir der Lateinunterricht – wir waren an dieser Schule der letzte Jahrgang, der sich ab der fünften Klasse durch Ovids „Metamorphosen“ und Caesars „De bello Gallico“ übersetzte – deutlich lieber. Da gab es klare Fälle und deutliche Ansagen. Entweder man entdeckte den Ablativ oder eben meistens auch nicht. Helfen konnten da nur noch die berühmten gelben Heftchen, die zu Hause auf dem Schreibtisch lagen, an dem ab 13.30 Uhr die Hausaufgaben erledigt wurden.

Für die habe ich in meiner Erinnerung selten länger gebraucht als für das Mittagessen, das meine Mutter für meinen Bruder und mich jeden Tag frisch kochte, was wir leider auch erst heute richtig zu schätzen wissen. Die Nachmittage verbrachten wir meist auf dem Tennisplatz, denn es war die Zeit, als Boris Becker noch ein Held war, der auf dem Rasen verrücktspielte und nicht bei Twitter. Dass es mal einen solchen Kurznachrichtendienst geben würde, war in jenen Jahren, als ein Mobiltelefon-Knochen mit ausziehbarer Antenne als letzter Schrei galt, unvorstellbar. Nun ja, also Becker lieferte sich Schlachten mit dem wilden Andre Agassi, von dem wir nie gedacht hätten, dass er mal unsere Steffi, die brave Königin des weißen Sports, heiraten würde. 1991 spielte Becker im Finale von Wimbledon gegen Michael Stich aus Elmshorn, dessen geografische Lage ich erst einmal in einem dieser dicken Brockhaus-Lexika, die damals unsere Schrankwand füllten, nachlas. Es war das einzige Mal, dass ein Graben mitten durch unser Wohnzimmer verlief: Mutter und Bruder auf dem linken Sofa für Stich, Vater und Tochter auf dem rechten für Becker.

Gespielt haben wir aber nicht nur Tennis, sondern auch Tetris. Fast jedes Kind hatte damals einen Gameboy, jene graue Mini-Konsole aus Japan, die bis heute als meistverkaufte der Welt gilt. Überhaupt hatten uns die Asiaten mit allerlei Spielereien beglückt. Man denke nur an das Tamagotchi, diese Mischung aus Ei und Uhr, die aber in echt ein virtuelles Küken war, um das sich einige meiner Klassenkameraden so intensiv kümmerten, dass sie zum Leidwesen ihrer Eltern das Gassigehen mit dem nicht virtuellen Hund völlig vergaßen. Durch diese Technisierung verlagerte sich das Spielen zunehmend vom Wald ins Wohnzimmer. Das Daddeln wurde Freizeitbeschäftigung. Ende der 90er bekamen dann auch mein Bruder und ich unseren ersten Computer, einen riesigen Klotz, der mir schon damals ziemlich langsam vorkam. Aber dieses Internet war schon toll. Und so viel praktischer als Reclam-Hefte und Brockhaus.

Man konnte alles nachschauen, auch die Daten für den Geschichtsunterricht, in dem es viel um die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs ging. Nur ein einziges Mal durften wir im Unterricht einen Film schauen: „Schindlers Liste“, für den der Regisseur Steven Spielberg einen Oscar bekam und einige Jahre später auch das Bundesverdienstkreuz von Roman Herzog, dessen „Ruck-Rede“ 1997 für ziemlich viel Furore sorgte. Was im Fach Chemie lief, weiß ich nicht. Ich habe es nicht verstanden. Deshalb hatte ich mich mit meinen Freundinnen 1993 – im Jahr, als unsere Postleitzahl fünfstellig wurde – der „Garten AG“ angeschlossen. Die wurde von unserem Chemielehrer betreut, und wir hofften, dass unsere Defizite weniger auffielen, wenn wir uns um die Kräuterschnecke kümmerten. Ein Plan, der leider nicht aufging. Ich kassierte in einem unangekündigten Test (der Gerd sagte vorher immer Bescheid!) eine Fünf, was mich in eine Krise stürzte.

Deutlich härter traf mich 1995 allerdings das Aus von Robbie Williams bei Take That. Die Jungs in meinem Freundeskreis hatten dafür wenig Verständnis, aber die waren auch noch nicht über den Selbstmord von Kurt Cobain hinweg, der mit „Smells Like Teen Spirit“ so etwas wie die Hymne unserer Generation hinterlassen hatte. Einiger waren wir uns darin, dass man eine Levi’s 501 tragen musste und dass die Nationalelf 1996 Europameister werden sollte. Nach 1990, als ich mit meinem Bruder noch die Porträtbildchen von Andreas Möller, Lothar Matthäus und Andi Brehme aus Duplo und Hanuta geschält hatte, wurde es der zweite große Titel der Dekade. Und bis heute der letzte.

Im Jahr 2000, als wegen des Millenniums Computerabstürze gigantischen Ausmaßes vorhergesagt worden waren, bestand ich das Abitur. Ohne Abstürze. Und ohne Chemie und – noch segensreicher – auch ohne Mathematik als Prüfungsfach, was in NRW damals gerade noch erlaubt war. Ich verkündete auf der Feier meinen Plan, in Leipzig zu studieren, worauf mir meine Mitschüler aus der grünen Jugend, die Sticker mit dem Spruch „Vereintes Europa“ an ihre Rucksäcke gepinnt hatten, Bananen mitgeben wollten, und auch einer meiner besten Freunde, der seit Kurzem bei den Jungen Liberalen mitmischte – ein Engagement, das sich bei ihm vor allem in Genscher-gelben Pullis manifestierte–, meinte, es sei doch vielleicht noch ein bisschen früh für diesen Schritt.

Ich habe dennoch rübergemacht. In die Stadt der friedlichen Revolution, in der die Altbauwohnungen mit Marmorbad nichts kosteten. Eine Stadt, in der wir in deutsch-deutschen Freundschaften unsere gegenseitigen Vorurteile abbauten. Ich hatte eine fantastische Jugend im tiefen Westen. Und eine unvergessliche Studienzeit im wilden Osten. Ich bin ein Kind der Einheit. Und dafür sehr dankbar.